Auf einem Ausflug zum Seeburger See spricht der neue Chef der Universitätsmedizin Göttingen, Prof. Dr. med. Wolfgang Brück, mit dem Charakter-Chefredakteur Ulrich Drees über die Kontakt­freude der Mainzer und die Zukunft des Gesundheitswesens im Flächenland Niedersachsen.

Text: Ulrich Drees | Fotos: Sylvia Stein

Herr Brück, man hört Ihnen einen leichten rheinhessischen Dialekt an. Wo genau kommt der her?
Aus Mainz. Dort wurde ich geboren, und ich bin dort in der Nähe auch aufgewachsen. Nach meiner Schulzeit in Bingen am Rhein, habe ich in Mainz Medizin studiert und bin nach dem Studium als Assistenzarzt nach Göttingen gekommen.
In welchem Fachbereich waren Sie tätig?
Das war die Neuropathologie, die ich dann ja auch für lange Zeit gemacht habe. Nach meiner Habilitation in Göttingen war ich dann für einige Zeit in Österreich und im Anschluss für fünf Jahre an der Charité Universitätsmedizin in Berlin. Da damals die Position des Direktors des Instituts für Neuropathologie unbesetzt war, habe ich es eine Weile geleitet, bis ein Ersatz gefunden war. Ich hatte dann dort eine C3-Professur inne, habe mich aber Anfang der 2000er-Jahre in Göttingen beworben und bin dann 2002 hierher zurückgekehrt, um auf einer C4-Professur die Leitung der Neuropathologie zu übernehmen. In dieser Funktion war ich dann auch tätig, bis ich im Juni 2019 zum Vorstand Forschung und Lehre und damit auch zum Sprecher des Vorstands der Universitätsmedizin Göttingen gewählt wurde.
Als bekannt wurde, dass Ihr Vorgänger Prof. Dr. Heyo K. Kroemer zum 1. September 2019 als Vorstandsvorsitzender an die Charité Universitätsmedizin Berlin wechseln würde, war es eine Bauchentscheidung, sich für die Position des Vorstandssprechers zu bewerben, oder haben Sie schon länger darüber nachgedacht?
Das war schon lange eine Überlegung. Ich war ja bereits sieben Jahre lang als Stellvertreter von Herrn Kroemer aktiv, und es war ja auch bereits im August des letzten Jahres bekannt, dass man ihm die Position in Berlin angeboten hatte. Schon damals konnte man damit rechnen, dass er das auch annehmen würde, denn das ist sicher einer der attraktivsten Jobs im Bereich der Universitätsmedizin in Deutschland. Aus meiner Sicht ist Herr Kroemer nicht zuletzt dank seines politischen Verständnisses, das er sowohl in Niedersachsen als auch auf Bundesebene immer wieder unter Beweis gestellt hat, geradezu prädestiniert für diese Position. Das heißt, ich habe mir seit September letzten Jahres Gedanken gemacht, ob ich seine Nachfolge anstreben wollte.
Was geht einem dann durch den Kopf?
Ich bin 58. Wenn man mich vor zehn Jahren gefragt hätte, hätte ich das sicher nicht gemacht. Aber jetzt habe ich einen Lebensabschnitt erreicht, in dem ich 30 Jahre lang in der Forschung und als Institutsleiter eine Position ausgefüllt habe, in der ich, denke ich, wissenschaftlich ganz erfolgreich war und meine Fußspuren hinterlassen habe. Deshalb denke ich, dass war der richtige Zeitpunkt, meinen Hut in den Ring zu werfen und zu sagen: Wenn ihr mich wollt, stehe ich zur Verfügung.
Unter Ihrer Leitung hat sich das Göttinger Institut für Neuropathologie zu einer der weltweit führenden Einrichtungen im Bereich der Multiple-Sklerose-(MS)-Forschung entwickelt. Sie selbst gelten als international anerkannter Experte auf diesem Gebiet. Haben Sie als Sprecher des Vorstands der Universitätsmedizin Göttingen noch Zeit, sich wissenschaftlich zu betätigen?
Das zu denken, wäre eine Illusion. Ich habe zwar noch eine kleine Arbeitsgruppe am Institut, zu der auch ein kleines Labor gehört, aber seit dem 1. August war ich höchsten zwei-, dreimal dort. Die Entscheidung, mich von der Wissenschaft zu verabschieden und mich dem Wissenschaftsmanagement zu widmen, war für mich wohlüberlegt. Ich habe auf diese Weise einen guten Abschluss gefunden und freue mich auf einen neuen Abschnitt mit ganz neuen Aufgaben und Themen, die mir zuvor vielleicht noch nicht einmal bekannt waren.
Wie ist es für einen Mediziner, sich mit einer unheilbaren Krankheit zu beschäftigen?
Als ich Ende der 90er-Jahre anfing, landeten Patienten mit Multipler Sklerose (MS) häufig im Rollstuhl. In den letzten 30 Jahren hat sich aber Erhebliches getan, was die Therapiemöglichkeiten betrifft. Multiple Sklerose ist zwar immer noch nicht heilbar, aber heute muss niemand mehr in den Rollstuhl, der frühzeitig und gut behandelt wird. Es gibt noch viel zu tun, aber die Situation für die Patienten ist sehr viel besser geworden.


Wenn man sich zu Beginn einer wissenschaftlichen Laufbahn für solch ein Fachgebiet entscheidet, träumt man dann davon, vielleicht eine Heilmethode zu entwickeln?
Das ist schon ein Ansporn. Wobei die Heilung nicht unbedingt das primäre Ziel ist. Aber der Wunsch, herauszufinden, wie solch eine Erkrankung entsteht, damit man mit den Ergebnissen, die ich vorwiegend am Mikroskop herausfinde, eines Tages eine bessere Therapie entwickeln kann, diesen Anspruch habe ich schon gehabt – und ich glaube, wir haben unseren Beitrag dazu geleistet, dass man diese Erkrankung heute viel besser versteht. Wir zählen heute in Göttingen zu den drei bis vier weltweit führenden Zentren, was die MS-Pathologie betrifft. Diese Arbeit wird sicher weitergeführt.
Sind die Erfahrungen, die Sie als Institutsleiter gesammelt haben, Ihnen jetzt von Nutzen, wo Ihr Fokus auf dem Wissensmanagement liegt?
Die Grundprinzipien sind überall gleich. Wenn wir uns jetzt darum bemühen, die Mittel für den Krankenhausumbau zu erhalten, ist das im Prinzip dem ähnlich, was ich vorher in kleinerem Rahmen gemacht habe, etwa so, wie wenn ich einen großen Drittmittelantrag schreibe. Ich versuche, dieselben Prozesse anzuwenden und weiterhin in allen Strukturen kooperativ zu denken, denn Einzelkämpfer sind heutzutage verloren. Man muss sich für bestimmte Gebiete Experten holen, und es ist gut, wenn man das gemeinsam macht. Auch die Notwendigkeit, langfristig zu denken, mich zu fragen, wie ich in zehn Jahren aufgestellt sein will, gehört zu diesem Erfahrungsbereich, auf den ich jetzt zurückgreife. Das ist in der Wissenschaft genauso wie im Management. Wie rekrutiere ich mein Personal? Wen brauche ich für bestimmte Aufgaben? Das ist ein ähnliches Denken.
Muss man ein politischer Mensch sein, um Ihre Position erfolgreich auszufüllen?
Wichtig ist vor allem ein guter persönlicher Kontakt und, dass man gut darin ist, neue Kontakte zu knüpfen, um sich erfolgreich zu vernetzen. Ob in der Wissenschaft oder in der Politik – die Mechanismen funktionieren gleich, und immer hängt vieles von der persönlichen Interaktion ab. Man muss auch mit Leuten gut auskommen, mit denen man sich auf persönlicher Ebene vielleicht nicht so gut versteht. Dazu muss man die richtigen Anknüpfungspunkte finden.
Hilft Ihnen Ihre Herkunft aus Mainz dabei?
Sicherlich. Als Rheinhesse ist man relativ offen und kommuniziert mit jedem vollkommen entspannt; das habe ich auch bei der Eröffnung des Literaturherbstes gemerkt, wo ich mit Menschen in Kontakt kam, die ich sonst nicht treffe.
Sind Sie noch öfter in Mainz?
Ja, meine Mutter wohnt noch in der Nähe von Mainz. Ich besuche sie regelmäßig.
Fehlt Ihnen der Karneval?
Mir reicht es, wenn ich freitagabends die Fernsehsitzungen „Mainz bleibt Mainz, wie es singt und lacht“ sehe. Die sind fest eingeplant.
Der große Umbau der UMG steht bevor. Dabei hat das Land als Geldgeber den Hut auf. Wie oft sind Sie momentan in Hannover?
Ein- bis zweimal in der Woche. Im Wissenschaftsministerium wurden eigens ganz neue Strukturen geschaffen. Eine Bau-Dachgesellschaft wurde gegründet, die für uns und den zeitgleichen Umbau der MHH, der Medizinischen Hochschule in Hannover, zuständig ist. Deshalb haben wir wöchentliche Fixtermine, auf denen alle anstehenden Themen besprochen werden und der Prozess vorangetrieben wird. Auch darüber hinaus sind wir in anderen Zusammenhängen in konstantem Kontakt mit dem Wissenschaftsministerium, denn ich bin davon überzeugt, dass man sich immer aktiv verhalten sollte. Wir haben eine Agenda, die wir politisch vorantreiben wollen. Bei diesem Prozess müssen wir das Wissenschaftsministerium mitnehmen bzw. aktiv einbinden und unsere Themen setzen, um die UMG nach vorne zu bringen.


Spielt Göttingen als Standort der Gesundheitsbranche auf der bundesdeutschen Landkarte eigentlich eine wichtige Rolle?
Was die Gesundheitsbranche betrifft, sind wir möglicherweise einer unter vielen. Wir versuchen jedoch, bei den Treffen im Wissenschaftsministerium deutlich zu machen, dass die Gesundheitswirtschaft neben den momentanen beiden Hauptthemen Mobilität und dem Tourismus zu einem dritten Schwerpunkt in Niedersachsen werden muss. Niemand weiß gegenwärtig, in welche Richtung sich die Mobilität entwickeln wird oder ob die Elektromobilität, die momentan so im Fokus steht, wirklich die einzige langfristige Lösung sein wird. Bei der Gesundheitswirtschaft besteht jedoch ein echter Bedarf, der viele Chancen bietet. In Göttingen und der Region Südniedersachsen zählt die Gesundheitsbranche zu den wirtschaftlich stärksten Faktoren und ist ein enorm wichtiger Arbeitgeber.
Wo sehen Sie diese Chancen?
Der Niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil hat mich gerade eingeladen, um über ein Projekt Niedersachsen 2030 zu sprechen. Dabei soll es um Fragen von Mobilität, Gesundheit und Digitalisierung in 10 Jahren gehen. Angesichts einer alternden Bevölkerung und als Flächenland kann Niedersachsen zu einer Modellregion werden, die zeigt, wie sich medizinische Versorgung auf einer großen Fläche sicherstellen lässt. Auch ein Maximalversorger wie die UMG wird sich diesen Fragen in der Zukunft stellen müssen. Da kommt einiges auf uns zu: So setzen wir uns schon heute im Gesundheitscampus Göttingen mit neuen Berufsbildern im Gesundheitsbereich auseinander, mit sozialer Arbeit im Gesundheitswesen, mit Fragen des Quartiersmanagements aus gesundheitlicher Sicht. Wir müssen gewährleisten, dass die vielen alten Menschen, die es in 10 bis 20 Jahren nicht nur in Niedersachsen geben wird, an das Gesundheitswesen angebunden bleiben. Als großes Universitätsklinikum müssen wir alle Aspekte der Gesundheitsversorgung für die Bevölkerung in Betracht ziehen, wozu auch die Vernetzung mit kleineren, regionalen Krankenhäusern in Hann. Münden, Duderstadt, Einbeck oder Northeim gehört. Da müssen wir gemeinsam die einzelnen Rollen definieren. Betrachtet man all diese Aufgaben und Zusammenhänge, sind wir mit der Gesundheitsregion Südniedersachsen, glaube ich, auf einem guten Weg, aber es gibt noch viel zu tun.
In Ihrer jetzigen Funktion sind Sie der Chef des größten Arbeitgebers in Göttingen. Verändert so etwas die Sicht auf die eigene Rolle?
Sogar massiv. War ich zuvor für ca. 75 Mitarbeiter verantwortlich, sind es jetzt knapp 8.000. Als Vorstand haben wir außerdem die wirtschaftliche Verantwortung für die Unternehmung UMG, und in der derzeitigen Finanzierungssituation ist es extrem schwierig, auf eine „schwarze Null“ zu kommen. Hier muss wirklich etwas geschehen. Aktuell schreiben, glaube ich, nur eine oder zwei Unikliniken in Deutschland schwarze Zahlen. Manche Unikliniken haben im letzten Jahr 30 bis 60 Mio. Euro Minus gemacht. Angesichts solch einer Situation die Arbeitsplätze der UMG zu sichern, ist eine große Verantwortung.
Schlafen Sie trotzdem noch so gut wie vor einem Jahr?
Ja. Dabei hilft mir auch mein fester Rhythmus.
Wann fangen Sie morgens an?
Kurz nach sieben Uhr bin ich meist im Büro, dann nehme ich mir noch einmal ein bis zwei Stunden Zeit zum Nachdenken, Lesen und Vorbereiten, bevor die Termine losgehen und keine Zeit mehr für etwas anderes ist.
Wenn Sie drei Sachbücher zur Wahl hätten, über Tiere, Psychologie und ein historisches Thema, welches würden Sie lesen?
Das über Psychologie, weil ich mich immer wieder damit beschäftige, wie ich mit unterschiedlichen Personen umgehen kann. Noch während meiner Zeit in der Wissenschaft habe ich immer wieder gehört, dass ich mich relativ gut auf mein Gegenüber einstellen kann. Das ist wichtig, denn Professoren können ja schon manchmal ein wenig eigen sein. Dann muss man wissen, wie man eine so klare Sprache findet, dass man z. B. auch in einen Konflikt gehen kann, ohne dass der ausartet.
Was sind die wichtigsten Faktoren, über die Sie sich einen ersten Eindruck Ihres Gegenübers bilden?
Ich verlasse mich auf mein Bauchgefühl, das mir schon nach relativ kurzer Zeit sagt, ob ich mit jemandem kann oder nicht. Bei Bewerbungen habe ich mir beispielsweise den Lebenslauf erst angeschaut, nachdem ich mit jemandem gesprochen hatte. Ich achte auch nicht so sehr auf die Noten. Jemand muss ins Team bzw. auf die Position passen, um die es geht, und sei es als wichtiger Querdenker, der Prozesse auch einmal um eine neue Perspektive erweitert. So jemand kann ansonsten durchaus schwer integrierbar sein, er muss nur selbst auf andere Rücksicht nehmen können. Über solche Aspekte bilde ich mir meist schon nach einem ersten Gespräch ein Bild.
Was gönnen Sie sich in Ihrer Freizeit?
Gelegentlich besuche ich gern eine Oper in Berlin. Ich brauche aber auch den Samstagnachmittag, um Fußballbundesliga zu schauen.
Welche Operngattung mögen Sie insbesondere?
Das hängt von der Stimmung ab. Ich liebe aber die italienische, weil sie so beschwingt ist.
Und welchen Verein?
Da bleibe ich heimatverbunden: Mainz 05.
Göttingen erinnert ja auch gelegentlich an eine Insel des Wohlgefühls. Nehmen Sie international eine Strömung wahr, die Ihnen zu denken gibt?
Ich war letztes Jahr zu einem Kongress in Downtown Los Angeles, und ich war wirklich schockiert, dass man uns an der Rezeption des Hotels warnte, nicht auf der Straße zu verweilen, sondern sofort ins Taxi zu steigen. Dort waren überall Obdachlose, ein richtiges Camp. Das zu sehen, war krass, denn es war natürlich ein Zeichen davon, wie sehr die US-amerikanische Gesellschaft zwischen Arm und Reich auseinandergedriftet ist. Dieser Prozess ist ja auch in Deutschland spürbar, aber das Ausmaß dort war wirklich schockierend. Was all das angeht, ist Göttingen schon so etwas wie eine Wohlfühloase: Es ist überschaubar, sehr studentisch, sehr international, und das trägt sicher dazu bei, solche Konfliktthemen besser in den Griff zu bekommen, als dies anderswo möglich ist.
Sie sind mit uns zum Seeburger See gefahren. Warum sind Sie gern hier?
Ich schätze es, dass man hier zur Ruhe kommt. Hier kann ich nachdenken, ein wenig loslassen und über zukünftige Entwicklungen nachdenken. Früher habe ich mir gern mittags für so etwas Zeit genommen. Der Mensch braucht solche kreativen Phasen.
Wir unterhalten uns zur Mittagszeit. Was essen Sie denn gerne?
Ich esse gerne Fleisch, nicht jeden Tag, aber zum Beispiel am Wochenende. Ansonsten esse ich sehr gerne Salat und Nudeln.

Prof. Dr. med. Wolfgang Brück
Seit dem 1. August 2019 ist Prof. Dr. med. Wolfgang Brück der neue Vorstand für Forschung und Lehre der Universitätsmedizin Göttingen (UMG). Zugleich wird der frühere Direktor des Instituts für Neuropathologie Sprecher des Vorstandes der UMG und Dekan der Medizinischen Fakultät. Der 58-jährige Nachfolger von Prof. Dr. Heyo K. Kroemer wurde vom Fakultätsrat der UMG und dem Stiftungsausschuss der Universität Göttingen einstimmig gewählt.