Im Charakter-Interview schildert der BVMW-Präsident Mario Ohoven seine Sicht auf die Corona-Krise und berichtet von seiner Arbeit als Interessenvertreter des Mittelstandes.

Interview: Ulrich Drees | Fotos: Olaf Janke, Annemarie Thiede, Frank Senftleben, Juha Roininen

Herr Ohoven, können Sie sich noch an Ihre Erwartungen erinnern, als die ersten Nachrichten über die rasche Ausbreitung von Corona in China zu lesen waren?
Mir war von Anfang an klar, dass die Coronaepidemie nicht an den Grenzen Chinas haltmachen und somit auch Deutschland erreichen würde. China wiederum ist unser wichtigster Handelspartner, allein chinesische Vorleistungsgüter haben bei deutschen Unternehmen einen Anteil von fast zehn Prozent. Wir haben als Verband frühzeitig von der Bundesregierung eine Strategie gefordert, wie sich die Ausbreitung des Virus verhindern lässt, ohne den Waren- und Personenverkehr zu beeinträchtigen – anfangs leider ohne jeden Erfolg.

Welche konkreten Auswirkungen hatte die Pandemie auf Ihren Alltag?
Mein Alltag hat sich, wie bei meisten Menschen, grundlegend geändert. Im privaten Bereich musste ich meine Kontakte drastisch einschränken – was mir als Familienmensch besonders schwergefallen ist. Meine Aufgaben als Präsident des BVMW und des europäischen Mittelstandsdachverbandes kann ich momentan fast nur per Videokonferenz wahrnehmen, weil es so gut wie keine Flüge gibt. Das gilt auch für meine regelmäßigen Treffen mit Unternehmern und Politikern. Kein noch so guter digitaler Dialog kann aber das persönliche Gespräch ersetzen.

Welche Aufgaben stehen für Sie aktuell als Präsident des BVMW bzw. der Europäischen Vereinigung der Verbände kleinerer und mittlerer Unternehmen (CEA-PME) im Mittelpunkt?
Momentan ist es das Wichtigste, den Millionen Mittelständlern in Deutschland und Europa das Überleben zu sichern. Dafür brauchen sie vor allem Liquidität. Laut einer Umfrage unseres Verbandes decken aber die ausgezahlten staatlichen Hilfen bei über 75 Prozent der Mittelständler nicht den Finanzbedarf. Wir kämpfen deshalb in Berlin und Brüssel dafür, dass die Milliardenda ankommen, wo sie dringend gebraucht werden, nämlich im Mittelstand. Dazu nur ein Beispiel: Der Bund hat u.a. auf unser Drängen hin seine Haftungsgarantie für die Hilfskredite auf 100 Prozent erhöht. Das Problem dabei ist, dass die KfW für diese Kredite Zinsen verlangt – den Betrieben werden also noch zusätzliche Belastungen auferlegt. Deshalb sagen wir: Um Betriebe und Arbeitsplätze zu retten, sollte auf Zinsen komplett verzichtet werden. Ist ein Unternehmen erst einmal pleite, kommt jede noch so große Hilfe zu spät.

Die Krise hat viele Aspekte. In welchem Verhältnis sehen Sie dabei wirtschaftliche und gesundheitliche Aspekte?
Gesundheitsschutz der Menschen und Gesunderhaltung der Wirtschaft sind zwei Seiten einer Medaille. Mittelstand ist gelebte soziale Verantwortung. Schon deshalb tun die Unternehmer alles dafür, um ihre Mitarbeiter vor Ansteckung zu schützen. Auf der anderen Seite müssen wir aufpassen, dass die Medizin nicht mehr Schaden anrichtet als die Krankheit. Jede Woche, in der unsere Volkswirtschaft auf halber Kraft läuft, kostet uns bis zu 40 Milliarden Euro. Allein im März hat der Mittelstand rund 75 Milliarden Euro Umsatz durch die Coronakrise verloren. Umso mehr kommt es jetzt darauf an, die Wirtschaft so schnell wie möglich wieder hochzufahren. Wir haben in einem offenen Brief an die Politik appelliert, den Lockdown für die Wirtschaft aufzuheben, bevor es zu spät ist.

Was wünschen Sie sich von der Politik, und mit wem sprechen Sie darüber?
Es geht hier nicht um „Wünsch Dir was“, sondern um die berechtigten Forderungen des Mittelstands. Unsere Unternehmen müssen rasch und nachhaltig entlastet werden, damit Deutschland insgesamt international wettbewerbsfähig bleibt. Dafür benötigen wir eine politische Reformagenda: weniger Steuern und Abgaben, mehr Flexibilität, zum Beispiel bei der Arbeitszeit. Dazu fünf konkrete Beispiele: der Solidaritätszuschlag gehört sofort und für alle abgeschafft, und zwar rückwirkend zum 1. Januar 2020. Die Vorfälligkeit der Sozialversicherungsbeiträge muss endlich zurückgenommen werden, die Lohnzusatzkosten müssen bei 40 Prozent gedeckelt werden. Wir wollen Jahresarbeitszeitkonten statt einer täglichen Höchstarbeitszeit. Und es ist höchste Zeit, dass die Stromsteuer bei uns auf das europäische Niveau abgesenkt wird. Was jetzt mit Sicherheit niemand braucht, sind zusätzliche Belastungen der Betriebe. Dies wäre Gift für Investitionen in Deutschland.
Darüber tausche ich mich im Übrigen ständig mit Spitzenpolitikern aus Parlament, Bundesregierungund Parteien aus. Einer meiner wichtigsten Ansprechpartner ist naturgemäß Wirtschaftsminister Peter Altmaier.

Nach welchen Maßstäben messen Sie den Erfolg Ihrer Arbeit?
Die Mitgliedschaft im BVMW ist freiwillig, das heißt, wir müssen durch Leistung und Problemlösungen überzeugen. Dass unser Verband gegen den allgemeinen Trend in der Verbandslandschaft stetig wächst, spricht für den Erfolg unserer Arbeit. Dazu nur drei Beispiele aus jüngerer Zeit: Die Verdoppelung bei der Sofortabschreibung geringwertiger Wirtschaftsgüter auf 800 Euro ist unserem Einsatz zu verdanken. Davon profitieren nahezu alle Klein- und Mittelbetriebe. Auf unser Drängen wurde endlich die steuerliche Forschungsförderung in Deutschland eingeführt, die es in den meisten OECD-Ländern bereits seit Langem gibt. Dieser massive Wettbewerbsnachteil für deutsche Mittelständler gehört dank unserer Arbeit der Vergangenheit an. Außerdem konnten wir durchsetzen, dass das Bundesfinanzministerium von seinen Plänen abgerückt ist, die 44-Euro-Freigrenze für Debitkarten abzuschaffen. Den Nutzen haben sechs Millionen Arbeitnehmer und 100.000 Unternehmen.

Stehen Sie dabei in einem Wettbewerb mit anderen Lobbyisten? Wie muss man sich das vorstellen?
Unsere Lobbyarbeit für den Mittelstand geschieht teils im Wettbewerb mit anderen Verbänden, wo es gemeinsame Interessen gibt, aber auch im Zusammenspiel. Wir sind als Spitzenverband der Wirtschaft in feste Runden eingebunden, etwa beim Jahreswirtschaftsbericht, arbeiten aber auch in einer Vielzahl von Gremien mit. Daneben wirken wir bei parlamentarischen Anhörungen mit und geben Stellungnahmen zu allen mittelstandsrelevanten Themen ab. Ein weiteres, schlagkräftiges Argument ist die Größe unseres Verbandes: Der BVMW spricht im Rahmen seiner Mittelstandsallianz für über 900.000 Mitglieder – daran kommt keine Politikerin, kein Politiker vorbei. Das Wichtigste ist und bleibt jedoch das Beziehungsmanagement. Ohne den persönlichen „Draht“ zu den politischen Entscheidern läuft gar nichts. Der von mir gegründete Politische Beirat mit namhaften und erfahrenen Bundespolitikern aller Fraktionen hilft dabei sehr.

Bei der Verteilung beschränkter Mittel steht vielfach das Eigeninteresse im Mittelpunkt. Erleben Sie aktuell eine „Wir zuerst“-Mentalität bei den unterschiedlichen wirtschaftlichen Interessenverbänden?
Natürlich schauen die einzelnen Verbände in erster Linie auf ihre Branchen und die jeweiligen Mitglieder, das ist ja auch ihre Aufgabe. Dennoch erleben wir gerade in dieser Zeit einen wachsenden Zusammenhalt unter den Branchenverbänden. Der BVMW als größter freiwillig organisierter Mittelstandsverband ist branchenübergreifend aufgestellt, wir vernetzen Unternehmer verschiedener Branchen untereinander und behalten das große Ganze im Blick.In der Coronakrise haben wir auch gemeinsam mit Partnerverbänden Webinare organisiert, Wissen und Informationen geteilt. Es geht um die gesamte Wirtschaft – und das wissen alle Wirtschaftsverbände.

In der Öffentlichkeit gibt es vielfach eine Wahrnehmung, dass in erster Linie großen Konzernen geholfen wird, während kleinere Unternehmen wegen ausbleibender Unterstützung um ihre Existenz fürchten müssen. Was würden Sie konkret einem BVMW-Mitglied antworten, das fragt, warum sein Unternehmen wegen ausbleibender Unterstützung Insolvenz anmelden muss, während der Staat die Lufthansa mit Milliarden unterstützt?
Ja, das sieht zuerst so aus, und das wäre schlecht. Aber dass die staatlichen Hilfen für Konzerne in der Kritik stehen, hat etwas mit falsch verstandener Solidarität zu tun. Ich halte nichts von einer Diskussion „Klein gegen Groß“. Von einer starken Automobilindustrie etwa profitieren sowohl die mittelständischen Zulieferer als auch ihre Mitarbeiter. Das gilt genauso für die Luftfahrt- oder die Reisebranche. Die Großunternehmen brauchen den Mittelstand und umgekehrt.

Was sagt es Ihrer Meinung nach über ein Wirtschaftssystem aus, wenn ein Drittel aller Unternehmen womöglich maximal drei Monate durchhält?
Vorsicht, diese Krise ist atypisch. Die Kombination aus Angebotsverbot und Nachfrageschock ist in der jüngeren Wirtschaftsgeschichte einzigartig. Im Normalfall können gesunde Unternehmen selbstverständlich auch mal eine gewisse Durststrecke überstehen. Wir haben es gegenwärtigaber nicht mit einer „normalen“ Rezession zu tun, die durch einen plötzlichen Rückgang der Nachfrage oder eine Finanzkrise ausgelöst werden kann. In manchen Branchen, nehmen Sie den Messebau oder das Gastgewerbe, sind die Einnahmen mit einem Schlag nahezu komplett weggebrochen. Ohne schnelle liquiditätssichernde Hilfen droht diesen Betrieben das Aus.

Ist die aktuelle Krise insofern auch ein Sieb, durch das Unternehmen fallen werden, die zu „langsam“ sind oder deren Geschäftsmodell ohnehin nicht mehr lange funktioniert hätte?
Ich sage immer: Wer nicht mit der Zeit geht, der geht mit der Zeit. Mittelständler, die in den vergangenen Jahren die Digitalisierung verschlafen haben, bekommen jetzt massive Probleme in der Krise, beispielsweise dann, wenn sie Videokonferenz-Tools oder Home Office nutzen wollen. Und sicherlich besteht bei den großzügigen Staatshilfen im worst case das Risiko, dass Unternehmen, die sich auch schon vor der Coronakrise in einer extremen wirtschaftlichen Schieflage befanden, jetzt weiter künstlich am Leben gehalten werden. Hier muss der Staat sehr genau aufpassen, dass nicht Steuergelder an Firmen verschenkt werden, die nur den Rahm abschöpfen wollen und in drei Monaten ohnehin insolvent sind. Deshalb müssen wir so schnell wie möglich wieder weg von staatlichen Interventionen und zurück zum Markt kommen.

Was denken Sie über Forderungen, dass die Wirtschaftspolitik in den nächsten Jahren Themen wie Nachhaltigkeit und ökologische Transformation besonders vorantreiben sollte?
Der Mittelstand wirtschaftet seit jeher nachhaltig. Das hängt auch damit zusammen, dass unsere Unternehmer in Generationen denken und nicht in Quartalszahlen. Dazu kommt die traditionell starke Verwurzelung in der Region, für die man in bürgerschaftlicher und eben auch ökologischer Hinsicht Verantwortung übernimmt. Unser Verband bekennt sich klar zu den Klimazielen. Wir haben jüngst erst einen Expertenkreis Nachhaltigkeit gegründet, um Best Practices im Mittelstand besser zu verankern. Ich sage aber auch ganz deutlich: Ökologische Transformation und Wirtschaftlichkeit müssen im Einklang miteinander stehen. Für den Klimaschutz unsere Wirtschaftskraft zu opfern, hielte ich für einen fatalen Fehler.

Welchen Rat geben Sie Ihren Verbandsmitgliedern gegenwärtig?
Jede Krise ist zugleich eine Chance – für den, der die richtige innere Einstellung hat.Bildlich gesprochen: Wer niemals hinfallen will, wird sein Leben lang auf dem Bauch kriechen müssen.Wir müssen vom Sollen zum Wollen kommen. Deshalb gilt auch und gerade in diesen Zeiten: Haben Sie keine Angst vor, sondern Freude auf die Herausforderungen. Dann besteht für Sie die große Chance, als Gewinner aus der Krise hervorzugehen.

Wenn Sie eine Prognose abgeben müssten: Auf einer Skala von 1 bis 10, wie hart wird die Krise für die deutsche Wirtschaft ausfallen, und wie lange wird eine Erholung brauchen?
Ich fürchte, es wird auf eine 8 bis10 hinauslaufen. Aus wirtschaftlicher Sicht ist die Corona-Krise eine Katastrophe größten Ausmaßes. Wir müssen ja außerdem von Krisen sprechen, also im Plural. Neben der medizinischen Pandemie haben wir es mit einer Unternehmens- und Wirtschaftskrise sowie einer internationalen Staatsschulden- und Währungskrise zu tun. Die Weltwirtschaft schrumpft in diesem Jahr laut IWF um drei Prozent, und die Bundesregierung erwartet für Deutschland 2020 die schwerste Rezession der Nachkriegszeit. Hinzu kommt, in vielen Branchen werden die Effekte von Corona erst verzögert eintreten. Ich rechne deshalb bei uns mit einer dramatischen Insolvenzwelle im zweiten Halbjahr. Schon aus diesem Grund wird es noch das gesamte Jahr 2021 brauchen, um – wenn überhaupt – wieder Vorkrisenniveau zu erreichen.