Der Schwerpunkt Psychiatrie und Psychotherapie im Alter an der psychiatrischen Klinik der UMG

Text: Michael Seiler | Fotos: Adobe Stock, Frank Stefan Kimmel, Ronald Schmidt

Wie aus einer Grafik der renommierten Lancet Commission von 2020 hervorgeht, sind Experten in der Demenzforschung davon überzeugt, dass man bereits zwölf modifizierbare Risikofaktoren identifizieren konnte, die für ca. 40 Prozent der weltweiten Fälle von Demenz verantwortlich sind. Diese spielen als Risikofaktoren insbesondere in verschiedenen kritischen Lebensphasen eine Rolle, so Bluthochdruck, Hörminderung oder auch Übergewicht (Adipositas) im mittleren Lebensalter sowie u.a. Depressionen, Diabetes und weitere Faktoren im höheren Lebensalter. Das Wissen um diese Faktoren ist deshalb so wichtig, weil Behandler*innen und Betroffene selbst dazu beitragen können, das Risiko einer späteren Demenz für sich und andere durch eine gut eingestellte Behandlung und einen entsprechend angepassten Lebenswandel deutlich zu reduzieren.
Auch wenn die Erkenntnisse der Kommission zu möglichen Risikofaktoren bedeuten, dass immer noch 60 Prozent des Risikos verschlüsselt bleiben, ist es ermutigend, dass wissenschaftliche Ansatzpunkte für Therapien und Früherkennungsprogramme existieren und – so ist die Hoffnung – durch weitere Forschungen in Zukunft zusätzliche dazukommen.
Am Schwerpunkt Psychiatrie und Psychotherapie im Alter an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Göttingen setzt man schon jetzt auf ein breites Spektrum an Beratungs- und Therapieangeboten, um die individuelle Versorgung von Demenzpatienten zu gewährleisten. Darunter finden sich psychotherapeutische und medikamentöse Therapieformen, Lichttherapie, Wachtherapie, Ergotherapie, Physiotherapie sowie Soziotherapie, die allesamt zum möglichst langen Erhalt der Alltagskompetenz beitragen sollen. Der Schwerpunkt Psychiatrie und Psychotherapie im Alter spannt dabei den Bogen von ambulanter bis hin zu vollstationärer Versorgung: In der Gedächtnisambulanz, der aufsuchenden Senioren- und Pflegeheimversorgung, der Tagesklinik für Ältere Menschen, der offen geführten Privatstation sowie der geschützten gerontopsychiatrisch-neurologischen Station.
Einen großen Stellenwert in der aktuellen Demenzforschung besitzt die Suche nach Möglichkeiten, Demenzerkrankungen wie die Alzheimer-Demenz noch vor dem eigentlichen Ausbruch über sogenannte Biomarker zu entdecken, um entsprechend frühzeitig Maßnahmen ergreifen zu können. Wenn Betroffene früh in spezialisierten Einrichtungen wie der Gedächtnisambulanz erscheinen, lassen sich aufgrund der Entwicklungen der letzten Jahre bereits frühzeitig erste Veränderungen mit Hilfe von Nervenwasseruntersuchungen, bildgebenden Verfahren und Tests zur geistigen Leistungsfähigkeit entdecken. Ein wichtiger und attraktiver Forschungsschwerpunkt der Göttinger Klinik ist zudem seit langem die Entwicklung geeigneter Bluttests.
„Die Idee der Frühdiagnostik ist“, so PD Dr. Claudia Bartels, Leitende Psychologin, „dass man die Betroffenen in einem sehr frühen Stadium identifizieren kann.“ Wenn dann medikamentöse Behandlungsmethoden, die sich derzeit in der Erprobung befinden, nachrücken sollten, so die Hoffnung der leitenden Psychologin, könnten diese eingesetzt werden, noch bevor das Demenzstadium erreicht wird.
Im Rahmen der Forschung an Maßnahmen, besagte Risikofaktoren abzuschwächen oder zu hemmen, läuft aktuell seit Anfang 2021 die „AD-HEARING“-Studie. Auf Initiative der Psychiatrischen Klinik wird zusammen mit der Klinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde der Einfluss der Hörgeräteversorgung auf die geistige Leistungsfähigkeit im Alter untersucht.
Die Aufklärung und Beratung von Menschen, die sich mit ersten Gedächtnisstörungen oder anderweitigen Einbußen der geistigen Leistungsfähigkeit konfrontiert sehen, stehen ebenfalls im Fokus der UMG. Um die Beratungssituation auf Patientenseite zu verbessern, wurde 2021 ein Projekt zusammen mit dem Institut für Ethik und Geschichte der Medizin ins Leben gerufen. Ein Informations- und Beratungstelefon soll Menschen im Frühstadium einer Alzheimer-Erkrankung oder im Rahmen einer Demenzabklärung wertvolle Tipps und Informationen zu diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten auf direktem Weg weitergeben. Angehörige können sich dort mit ihren Fragen ebenfalls melden. Dr. Katrin Radenbach, Oberärztin der Tagesklinik für Ältere Menschen, betont, dass die Angehörigen der Demenzkranken auch in den ambulanten Einrichtungen der UMG Unterstützung in dieser außergewöhnlichen Lebenssituation angeboten bekommen und im Rahmen z. B. von Angehörigengruppen auch vielfach annehmen.
Das Netzwerkprojekt und Versorgungsmodell FIDEM (Frühe Informationen und Hilfen bei Demenz) zur Verbesserung der Versorgungssituation von Demenzpatient*innen läuft bereits seit Ende 2017 in der Region Göttingen. Es vernetzt derzeit rund 30 Hausärzte als erste Anlaufstelle von Menschen mit einsetzenden Gedächtnisstörungen sowie 50 nichtärztliche Behandler und Einrichtungen unter der Koordination der Psychiatrischen Klinik der UMG. Durch die Vernetzung sollen Hausarztpraxen entlastet und einer effizienteren Nutzung von Unterstützungsangeboten in Landkreis und der Stadt Göttingen erreicht werden. „Eine Auswertung zur Wahrnehmung des Projekts hinsichtlich Be- und Entlastung und Zufriedenheit der Beteiligten auf Behandlerseite bereiten wird derzeit vor“, so Bartels. Eine Reaktivierung der Netzwerkstrukturen, erforderlich durch die Corona-Pandemie und ihre Auswirkungen auf Netzwerkarbeit, wurde wiederholt und von mehreren Beteiligten gewünscht.
Die Corona-Pandemie hat im Bereich der Vernetzung neue Wege eröffnet: Digitale Angebote haben zeitweise gewohnte Präsenzveranstaltungen ersetzen müssen. Mittlerweile haben sich diese Kommunikationsformen aber in Teilen als effiziente und zukunftsfähige Ergänzung des Beratungs- und Therapieangebots etabliert. Vor allem für den ländlichen Bereich konnte man so eine ganz neue Zugänglichkeit schaffen, z.B. durch digital durchgeführte Angehörigenseminare und Fortbildungen für Kollegen und überregionale Kooperationspartner.
Die Wissenschaft forscht weiter intensiv an noch besseren Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten sowie an den Ursprüngen von Demenzen. Durch die bisher ermittelten Risikofaktoren für eine spätere Erkrankung hat es aber jeder ein Stück weit selbst in der Hand, körperlich, psychisch und geistig gesünder zu altern.

PD Dr. Claudia Bartels

Dr. Katrin Radenbach

Prof. Dr. Jens Wiltfang

Prof. Dr. Jens Wiltfang

Klinik-Direktor

Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
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Von-Siebold-Straße 5
37075 Göttingen
Telefon: 05 51 / 3 96 06 01
psychiatrie.sekretariat@med.uni-goettingen.de
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