Einst behauptete niemand Geringeres als Sigmund Freud, dass man mit Menschen jenseits der 50 keine Psychotherapie aufgrund geringer Erfolgsaussichten mehr durchführen solle. Zum Glück für Menschen mit Altersdepressionen teilt die moderne Medizin diese Einstellung längst nicht mehr.

Text: Michael Seiler | Fotos: Adobe Stock, UMG

Von Altersdepression wird meist gesprochen, wenn die Betroffenen 60 Jahre oder älter sind. Wirken in jüngeren Jahren Faktoren wie Beruf, Partnerschaft und Familie an der Entstehung von Depressionen mit, rücken im Alter häufig Themen in den Fokus wie der Tod des Ehe- oder Lebenspartners, das Nachlassen eigener körperlicher Kräfte und geistiger Fähigkeiten und die eigene Sterblichkeit.
„Für ältere Betroffene selbst, aber auch für deren Behandler ist es oft eine Herausforderung zu erkennen, ob jemand depressiv ist“, weiß PD Dr. Claudia Bartels, leitende Psychologin der Klinik. „Bei Altersdepressionen ist das Beschwerdebild häufig weniger von emotionalen Veränderungen wie Stimmungseinbußen, sondern von unspezifischen, auch körperlichen Beschwerden wie Schmerzen, Schlafstörungen oder Konzentrations- und Gedächtnisproblemen geprägt.“
Man müsse davon ausgehen, dass depressive Störungen vor allem im Alter oft nicht erkannt oder fehldiagnostiziert würden. Laut Durwen (2009) wird nur etwa jeder zweite Mensch mit einer Depression überhaupt diagnostiziert. Die Prävalenz von Depression in der Altersgruppe über 60 liegt bei bis zu 10 Prozent. Hinzu kommen viele Fälle mit depressiven Beschwerden ohne das Vollbild einer Depression, die aber dennoch mit signifikanten psychosozialen Alltagsbeeinträchtigungen einhergehen.
Neben dem körperlichen Zustand ändern sich mit zunehmendem Alter auch die sozialen Lebensumstände, was zum Teil erhebliche Auswirkungen auf den Alltag und die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben hat.
„Der Übergang vom Beruf in die Rente ist oft eine kritische Schwellensituation“, berichtet Dr. Katrin Radenbach, Oberärztin im gerontopsychiatrischen Bereich der Klinik. „Manchen Menschen fehlen die Sozialkontakte, die durch den Beruf bestimmte Tagesstruktur und die Arbeit als Lebensinhalt.“
Durwen hat ermittelt, dass lediglich 25 Prozent der diagnostizierten Depressionen überhaupt behandelt würden. Nur bei 12,5 Prozent sei die Behandlung ausreichend. Daher ist es der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie besonders wichtig, mit einem breitgefächerten Versorgungsangebot möglichst viele an Depressionen leidenden Menschen auch in späteren Lebensabschnitten zu erkennen und ihnen zu helfen.
Auf der offen geführten Privatstation 4096 werden Erwachsene mit unterschiedlichsten psychiatrischen Erkrankungen behandelt, darunter auch Erkrankungen des höheren Lebensalters und Frühformen von Demenzerkrankungen. Hier findet eine ausführliche Diagnostik statt und die Patienten werden durch eine Kombination medikamentöser und psychotherapeutischer Verfahren sowie ergänzenden therapeutischen Angeboten behandelt. Einer der Schwerpunkte der Klinik liegt in der Anwendung von Neurostimulations-Methoden. „Gerade bei schweren depressiven Grunderkrankungen“, so Dr. Kirikaki Mavidou, Oberärztin der Station 4096, „bei denen verschiedene Medikamente keine Wirkung erzielt haben, werden bei uns auch Therapieformen wie die Elektrokonvulsionstherapie oder die Vagusnerv-Stimulation erfolgreich eingesetzt.“ Auch die repetitive transkranielle Magnetstimulation wird genutzt.
Schwerere Fälle psychischer Erkrankungen werden auf der interdisziplinären psychiatrisch-neurologischen Station 4094 mit umfassender Expertise medikamentös, psychotherapeutisch und soziotherapeutisch behandelt.
Die aufsuchende psychiatrische Heimversorgung unterstützt dagegen mehrere Senioren- und Pflegeeinrichtungen in und um Göttingen mit diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen, wenn Menschen die Ambulanzen der Klinik nicht mehr gut selbst aufsuchen können. Manch ein stationärer Aufenthalt kann dadurch vermieden werden.
Für Menschen, die ambulant nicht angemessen versorgt werden können, für die eine stationäre Aufnahme aber nicht unbedingt notwendig erscheint, ist die Tagesklinik für ältere Menschen (Station 4193) gedacht. Die Schwerpunkte liegen in der Diagnostik und Behandlung von Gedächtnisstörungen und Demenzen sowie Depressionen und Angsterkrankungen. Das Konzept der Tagesklinik sieht eine Nähe zum heimischen Alltag vor, indem die Patienten nur den Tag in der Klinik behandelt werden, aber im gewohnten Umfeld den Abend, die Nacht und die Wochenenden verbringen. So kann das in der Klinik Erarbeitete direkt im Alltag angewendet werden.
Eine weitere wichtige Schnittstelle der Klinik ist die Gedächtnis­ambulanz. „Es kann vorkommen, dass sich jemand mit diffusen körperlichen Beschwerden und Gedächtnisstörungen zur Demenzabklärung vorstellt, sich in der Differentialdiagnostik dann aber eine depressive Grunderkrankung herausstellt“, erklärt PD Dr. Claudia Bartels. „Dies ist unter anderem einer der Gründe, warum sich eine frühzeitige Abklärung solcher Veränderungen lohnen kann, denn Depressionen sind auch im Alter in der Regel gut behandelbar.“
Man geht davon aus, dass Depressionen im Rahmen einer beginnenden Demenz auftreten können, sie andererseits aber auch selbst ein Risikofaktor für die Entwicklung einer späteren demenziellen Erkrankung oder sogar ein Vorstadium einer Demenz sein können. Eine Behandlung einer Altersdepression könnte somit erheblich dazu beitragen, die Entwicklung einer dementiellen Erkrankung zu verzögern bzw. sogar zu verhindern.
Mit dem Bündnis gegen Depression in Südniedersachsen ist die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie im regen und inhaltlich fruchtbaren Austausch.
Anders als Freud es wahrhaben wollte, lassen sich depressive Zustände auch in höherem Alter nachweislich lindern oder sogar vollständig heilen. Das gelingt meist durch eine Kombination aus medikamentöser und psychotherapeutischer Behandlung, aber auch unter Einsatz modernster technischer Methoden an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der UMG.

PD Dr. Claudia Bartels

Dr. Kiriaki Mavridou

Dr. Katrin Radenbach

Bündnis gegen Depression in Südniedersachsen
Seit September 2019 gibt es in Südniedersachsen ein regionales Bündnis gegen Depression. Hier engagieren sich Institutionen und Kliniken, die Mitglieder der Sozialpsychiatrischen Verbünde, die Sozialpsychiatrischen Dienste sowie Selbsthilfegruppen, um gemeinsam Aufklärungsarbeit zu leisten.

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