Der Virologe Prof. Hendrik Streeck gehörte während der Pandemie zu den prominentesten „Corona“-Erklärern. Im Interview anlässlich des Göttinger Literaturherbstes spricht der gebürtige Göttinger über sein Buch und über die Lehren, die aus dem Verlauf der Corona-Krise gezogen werden sollten.
Interview: Ulrich Drees | Fotos: privat, Adobe Stock, Ulrich Drees
Herr Prof. Streeck, wie kam es dazu, dass Sie Ihr Buch „Unser Immunsystem“ geschrieben haben?
Als ich vor zehn Jahren von Harvard in eine Einrichtung des US-Militärs umzog, fand ich wegen eines Kommunikationsproblem zunächst zwar sehr große, aber auch sehr leere Laborräume vor. Die nötige Einrichtung über die zuständige Behörde einzukaufen, dauerte sehr lange. Während dieses Wartens habe ich zunächst viel gelesen und schließlich begonnen, ein Kinderbuch zu schreiben oder besser gesagt zu malen. Ich wollte zeigen, wie eine Infektion abläuft, und wie das Immunsystem eine Infektion bekämpft. Irgendwann dachte ich, dass könnte auch Erwachsene interessieren und habe in der Folge immer wieder daran gearbeitet.
2019 – als die Pandemie ausbrach – war das Manuskript fertig, und ich lernte zufällig Felicitas von Lovenberg vom Piper Verlag kennen, die sich für eine Veröffentlichung interessierte. Zwar hatte ich während der Pandemie kaum Zeit, aber meine Mitautorin Heike Wolters hat sich des Textes dann mit mir gemeinsam vorgenommen.
Wenn Sie als wissenschaftlicher Experte zu ihrem Spezialgebiet ein Buch schreiben, das sich an Laien richtet – macht das besonderen Spaß oder haben Sie die Herausforderung gesucht?
Beides trifft zu. Kommunikation gehört für mich zur Wissenschaft. Wenn ich nicht erklären kann, was ich mache, fehlt etwas wesentliches. Außerdem bin ich als Hochschullehrer ja ohnehin damit befasst, wenn ich beispielsweise die Einführungsvorlesung für Studienanfänger gebe. Auch da gilt: Je einfacher ich etwas erklären kann, desto leichter wecke ich das Interesse meiner Zuhörer:innen.
Grundsätzlich mag ich genau diese zwei Seiten der Wissenschaft, dass ich einerseits sehr komplexe Zusammenhänge entsprechend detailliert darstellen muss, um genau diese Inhalte dann andererseits auf wenige Worte und anschauliche Bilder herunterzubrechen.
Wer liest Ihr Buch? Erreichen Sie Reaktionen?
Genau weiß ich nicht, wer meine Leser:innen sind. Da es jetzt die sechste Auflage gibt, weiß ich aber, dass es sie gibt. Was Reaktionen angeht, werde ich besonders häufig auf die Abbildungen angesprochen, ob ich sie beispielsweise wirklich selbst gemalt hätte. Es gibt auch die Biolehrer, die oft sehr spezifisch noch einmal genauer nachfragen. Insgesamt ist eine große Bandbreite spürbar. Vor allem die Frage, wie sie ihr Immunsystem stärken können, beschäftigt viele Menschen.
Und wie lautet Ihre Antwort?
Wissenschaftlich betrachtet, kann man das Immunsystem nicht stärken. Wenn ich im direkten Gespräch darauf eingehe, beginnt meist sofort ein Gespräch darüber, was das Immunsystem eigentlich ist, oder wie die verschiedenen Zellen miteinander arbeiten.
Dass die Wissenschaft sagt, das Immunsystem sei nicht zu stärken, dürfte viele Menschen überraschen. Vielleicht ein gutes Beispiel dafür, wie schwierig Wissenschaftskommunikation sein kann – während der Corona-Pandemie standen die Ergebnisse der Wissenschaft ja absolut im Mittelpunkt des Interesses – gleichzeitig wurde klar, dass viele Menschen sie in Frage stellten, bzw. schlicht ablehnten. Was lief da schief?
Dieses quasi allumfassende Interesse an wissenschaftlichen Erkenntnissen gab es vor der Pandemie nicht. Daraus ergab sich erst der Bedarf für eine neue Form der Kommunikation, nicht nur in der Wissenschafts-, sondern auch in der Gesundheitskommunikation. Rückblickend sehe ich das Problem darin, wie die Sachverhalte sowohl von der Regierung als auch von unterschiedlichen Experten kommuniziert wurden. Es gab ein Potpourrie unterschiedlicher Einschätzungen. Mein Wunsch wäre, dass solche Diskussionen in Zukunft zuerst unter Experten stattfinden sollten. Danach könnte dann ein Konsens kommuniziert zu werden – idealerweise über eine dafür vorgesehen Institution, wie die ja existierende BZgA (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung), die während der Pandemie erstaunlicherweise überhaupt nicht in Erscheinung getreten ist.
Dass es diese einheitliche Kommunikation nicht gab, hat sich negativ ausgewirkt, weil sich jeder aus den verfügbaren Aussagen seine eigene Version oder auch nur Bruchstücke herausziehen konnte. So wird kein Vertrauen in die Wissenschaft und das Gesundheitssystem aufgebaut, es geht eher verloren.
Sie erwähnen einen Konsens – der war ja unter Wissenschaftlern keineswegs immer vorhanden. Wie sollte damit umgegangen werden?
Der Fehler war, dass eben nicht gesagt wurde: Wir sind im Großteil einer bestimmten Meinung, in Nuancen haben wir unterschiedliche Ansichten. Hätte man das gleich so dargestellt, hätte sich ein zusammenhängender Kommunikationsfluss ergeben. Wissenschaft lebt ja gerade aus der leidenschaftlichen Debatte um Theorien und Annahmen – der Konsens, der in der Pandemie sehr früh verloren ging, war die Aufgabe einer Debatte und stattdessen eine Abstemplung. Plötzlich wurde aus richtig oder falsch gut oder böse, Pragmatik wurde zuungunsten von Ideologie verdrängt, und die Politik unterschied plötzlich zwischen Team Vorsicht, und allen anderen Teams, die damit automatisch zu Unvorsichtigen wurden.
Wird sich die Position von Impfgegner:innen oder Coronaleugner:innen nach dem Lesen Ihres Buches verändern?
Das weiß ich nicht. Zumindest habe ich aber die Erfahrung gemacht, dass man auch mit sogenannten Impfgegnern, Coronaleugnern oder Querdenkern diskutieren kann. Man stößt nicht zwingend auf komplett verrückte oder abwegige Ansichten, weil es teilweise einfach ein fehlerhaftes Verständnis davon gibt, was eine Impfung ist oder was das Corona-Virus macht. Gerade in Bezug auf die Impfung kann man gut erklären, worum es dabei geht, was sie mit dem Körper macht und warum ihr Nutzen trotz möglicher Nebenwirkungen überwiegt. Ich hoffe, durch entsprechende Erklärungen zum Nachdenken anregen zu können.
Als prominenter Teil des öffentlichen Diskurses waren Sie vermutlich auch persönlichen Angriffen ausgesetzt. Wie geht man damit um?
Persönliche Angriffe gehören schon dazu, aber im Unterschied zum Gesundheitsminister oder dem Chef des RKI vertrete ich keine Institution, die mich schützen würde. Entsprechende Angriffe und Beleidigungen nimmt man sich schon zu Herzen. Mit der Zeit legt man sich jedoch ein dickes Fell zu. Trotzdem, Morddrohungen oder sogenannte Satire a la Böhmermann, wo man sich als RAF-like-Terrorist darstellt sieht, das läßt einen nicht kalt. Außerdem lernt man, dass man manchmal auch etwas repräsentiert, ohne dass man dazu überhaupt in der entsprechenden Position wäre.
Allerdings stehen diese Angriffe vor allem in den sozialen Medien überproportional im Mittelpunkt des Interesses, denn in meinem analogen, realen Leben erlebe ich nur Positives. Beispielsweise bekomme ich viele Briefe oder zu Beginn der Pandemie auch Blumen oder Schokolade und ähnliches. Das war alles sehr, sehr nett.“
Weniger Morddrohungen als Folge spürbarer Gesprächsbereitschaft – das wirft ein düsteres Bild auf die aktuelle Diskurskultur. War es Ihnen ein besonderes Anliegen auch mit Menschen aus der Querdenker-Szene im Austausch zu bleiben?
Ich kommuniziere gerne und mag es, auf Menschen zuzugehen, um mit Ihnen ins Gespräch zu kommen. Obwohl das untypisch für einen klassisch eher introvertierten Wissenschaftler sein mag, bin ich meinem Naturell gefolgt, als einer bestimmten Absicht. Trotzdem hielt ich es während der Pandemie wichtig, alle zu erreichen und niemanden auszuschließen. Deshalb hätte ich auch beinahe das Wort „Schwurbler“ bei der Wahl des Unwortes des Jahres 2021 eingereicht. Ich finde solche Form der Abstemplung furchtbar.
Haben Sie als Virologe während der Pandemie so etwas wie ein spezifisches Verantwortungsgefühl empfunden, Ihre Ergebnisse und Einschätzungen mit einer möglichst großen Zahl an Menschen zu teilen?
Genau darin, das so zu sehen, liegt der Fehler. Ich bin Virologe und bin zu dem Facharzt in Mikrobiologie und Infektionsepidemiologie. Aber ich bin kein Hygieniker, kein Psychologe, kein Wirtschaftswissenschaftler, kein Jurist oder was auch sonst immer. Trotzdem werde ich mittlerweile zu all diesen anderen Fachgebieten befragt. Es war falsch, nicht von Anfang an zu sagen, dass wir eine Gruppe von Experten unterschiedlicher Fachrichtungen brauchen, um die Pandemie von allen Richtungen aus zu beleuchten und Entscheidungen dann auch als Gruppe zu kommunizieren. Sicher spielte der Virus – und damit die Virologie – eine Hauptrolle, aber alles darum herum war und ist eben keine Virologie.
Vielleicht war die Situation zu neu, um alles richtig zu machen. Sind wir heute besser vorbereitet?
Aus meiner Sicht leider nicht. Deshalb braucht es unbedingt einen „lessons learned“-Prozess. Das meine ich nicht als Anklage, aber wir müssen uns genau anschauen, wo wir richtig und wo wir falsch reagiert haben, und das auch benennen. Dieser Prozess wird weh tun, weil viele – ich selbst eingeschlossen – sich eingestehen müssen, wo sie falsch lagen. Trotzdem ist dieser Prozess wichtig und muss jenseits aller Einzelinteressen organisiert werden, um es künftig besser zu machen. Es geht dabei nicht nur um die Eindämmung eines Virus, sondern auch um das Vertrauen in die Regierung. Das hängt zusammen, denn es zeigte sich, dass die Impfquote dort am niedrigsten ausfiel, wo auch das Vertrauen in die Regierung am schlechtesten ausgeprägt war.
Es gibt darüber hinaus enorm wichtige Aspekte, die wir überhaupt noch nicht aufgerollt haben. So stellte sich jetzt heraus, dass Schulen oder Kitas keine großen Überträger waren. Das hatten die Kinderärzte aber schon im März 2020 gesagt und vor Schließungen gewarnt. Damals wurden sie nicht ernst genommen, dass führte zu Verbitterung bei den Kinderärzten und Scham, bei denjenigen, die sich für die Schließungen ausgesprochen hatten.
Gibt es eine Institution, die diesen Auswertungsprozess umsetzen könnte?
Die muss noch geschaffen werden. Auch der Expertenrat ist dafür nicht die richtige Instanz. Der Prozess sollte von der Wissenschaft angestoßen werden, vielleicht auf einer großen Pandemie-Konferenz, auf der Vertreter verschiedener Fachbereiche gewählt werden könnten. Politisch kann so etwas nicht organisiert werden, das hat die Evolution des Sachverständigenrats gezeigt. Da hat am Ende jede Partei ihren Virologen untergebracht, und wir waren dann sechs Juristen und vier Virologen, die sich fragten, wo sind denn hier die Epidemiologen und Hygieniker? In solch einer Struktur müssen alle oder die meisten Fachgebiete zumindest mitreden.
Sicher auch Sozial- und Wirtschaftswissenschaften?
Ja. In Tübingen gibt es beispielsweise einen Sonderforschungsbereich zu Pandemien und sozialen Unruhen, die würden in den „lessons learned“-Prozess großartig hineinpassen.
Wir kommen nicht drum herum: Was erwarten Sie in Sachen Corona für den kommenden Winter?
Die Glaskugel. Zur Weltmeisterschaft rechne ich durch das Indoor-Viewing mit vermehrten, größeren Ausbrüchen – das liegt in der Natur respiratorischer Viren. Jetzt, Anfang November, liegt Corona auf Platz 4 der respiratorischen Viren. Das ist so gesehen ein großartiges Zeichen. Die Nummer 1 ist bereits die Grippe, und auch Rhinoviren, also der banale Schnupfen, setzen sich eindeutig durch. Trotzdem wird es im Winter noch einmal zu einer Coronawelle kommen. Wie stark die sein wird und um welche Variante es gehen wird, das lässt sich jetzt alles noch nicht vorhersagen. Gerade zirkuliert eine sogenannte Virensuppe aus vielen unterschiedlichen Varianten, in der sich keine einzelne Variante derzeit richtig durchsetzt. Würde ich wetten müssen, würde sich BQ1.1. durchsetzen. Unabhängig von der jeweiligen Variante zeigen aber alle eine Immunflucht – eine Mutation, um dem Immunsystem zu entgehen. Also wird es zu einem erneuten Anstieg kommen, vielleicht zu einer neuen Variante. Andererseits ist auch unsere Immunität inzwischen im Schnitt sehr hoch, also werden wir damit in diesem Winter sehr viel besser umgehen können als im letzten.
Wird Corona im Winter 2023/24 eines von vielen Viren sein?
Das hoffe ich. Vorhersagen kann ich es nicht, weil sich nicht sagen lässt, wie sich das Virus weiter verhält oder welche Mutationen entstehen. Grundsätzlich ist es dem Virus nämlich egal, wie krank es macht, es will fit bleiben, gut übertragbar sein und dem Immunsystem entkommen. Wenn diese drei Bereiche zusammenkommen, entsteht eine Welle, aber erst dann wird deutlich, wie gefährlich die dominante Variante ist.
Prof. Dr. med Hendrik Streeck
Der Virologe Hendrik Streeck wurde 1977 in Göttingen geboren und ist seit Oktober 2019 Direktor des Institutes für Virologie am Universitätsklinikum Bonn. Seit Dezember 2021 gehört er zum Corona-Expertenrat der Bundesregierung. Er lebt in Bonn und ist mit Paul Zubeil verheiratet. Im April 2020 wurden Ergebnisse der von ihm geleiteten COVID-19 Case-Cluster-Studie über die Verbreitung des SARS-CoV-2-Erregers und zur Dunkelziffer der tatsächlich Erkrankten in der Gemeinde Gangelt veröffentlicht.