Gegenwärtig erlebt die moderne Medizin eine Vielzahl von Innovationen in den verschiedensten Bereichen. Schon wenige Beispiele zeigen die Vielseitigkeit der neuen Ansätze, die bereits heute die Medizin der Zukunft erahnen lassen.

Text: Ulrich Drees | Fotos: Adobe Stock

Künstliche Intelligenz, Deep Learning, Cloud-Computing, neue Bildgebungsverfahren, Durchbrüche, die Genforschung – gepaart mit dem Verständnis, dass erfolgreiche Medizin motivierte Patient:innen braucht, so entstehen aus diesen Technologien zahlreiche ganz unterschiedliche Innovationen im Gesundheitssektor.

Dreidimensional in die Lunge schauen >>> Long Covid verstehen – diesem Ziel ist die medizinische Forschung dank der hierarchischen Phasen-Kontrast-Tomographie (HiP-CT) einen wichtigen Schritt näher gekommen. Mit dieser Technologie sind Anatomen nämlich in der Lage, mit einer dreidimensionalen mikroskopischen Auflösung in Organe wie die Lunge hineinzuzoomen. Die HiP-CT ermöglicht im Vergleich zur herkömmlichen Computertomographie 100-fach genauere Abbildungen bis in den Bereich von 2,5 Mikrometern. Die dazu nötige hochintensive Röntgenstrahlung mit stark gebündelten und parallelen Strahlen – die sogenannte Synchrotronstrahlung – erfordert allerdings größere Teilchenbeschleuniger, die nur an wenigen Orten weltweit zur Verfügung stehen. Ein solches Gerät befindet sich in der „European Synchrotron Research Facility“, dem weltweit drittgrößten Teilchenbeschleuniger im französischen Grenoble, wo ein Forscherteam um Peter Lee vom University College London, zu dem auch Forscher aus Hannover, Heidelberg, Mainz und Witten/Herdecke gehören, die Technologie entwickelte, um die Covid-Folgeschäden in der Lunge zu erforschen.

Wenn Pillen Sensoren tragen >>> Die Anforderungen an die moderne Gesundheitsvorsorge wachsen; es braucht immer mehr effiziente Diagnose- und Therapieverfahren für einen stetig wachsenden Bedarf. Bereits seit einigen Jahren kommt es deshalb im Bereich der sogenannten „smart pills“ zu immer neuen Innovationen. Grundsätzlich geht es darum, dass eingenommene Pillen nicht mehr nur Wirkstoffe, sondern auch miniaturisierte Sensortechnologie ins Innere des Körpers transportieren, die dann unterschiedlich genutzt werden kann. Den Anfang machte bereits Mitte des letzten Jahrzehnts die Wireless Capsule Endoscopy (WCE) in Form gekapselter Miniaturkameras. Sie half, unangenehme und risikobelastete endoskopische Untersuchungen zur Untersuchung des Darms zu vermeiden. „Smart pills“ können jedoch ebenso für eine exakte Medikamenteneinnahme und deren Überwachung genutzt werden, z. B. durch brotkrümelkleine Siliziumchips an klassischen Tabletten, die ihre Ankunft im Magen an das Handy des Patienten melden. Experten sind vom Potenzial der „smart pills“ überzeugt, da die Auswertung von Sensordaten zur mikrobiellen Zusammensetzung der Darmflora die Diagnose zahlreicher Erkrankungen ermöglichen könne. Ebenso sind therapeutische Verwendungen möglich. In Illinois wurden bereits seidenverpackte implantierbare Thermoregler aus hauchdünnem Silizium und Magnesium erprobt, die Infektionsherde lokal durch Hitze sterilisieren und in zwei Wochen auflösen konnten. Ein anderes Beispiel ist die von Bernhard Wolf von der Technischen Universität München mit Unterstützung der Heinz Nixdorf-Stiftung entwickelte Nanopille. Sie stoppt die Blutungen bösartiger Magentumore, indem sie sich mit dem Eisen im Blut verbindet und so Blutungsstellen verklebt. Außerdem dokumentiert sie den Behandlungsverlauf über gesendete Daten. Nach zwei Wochen löst sie sich bis auf zwei sandkornkleine Siliziumchips auf, die dann ohne Gefahr für Mensch oder Umwelt ausgeschieden werden.

Kinderwunsch vereinfachen >>> Obwohl die Weltgesundheitsorganisation Unfruchtbarkeit als Krankheit anerkennt und ca. eines von sechs Paaren betroffen ist, ist die Erfüllung eines Kinderwunsches vielfach eine frustrierende, kostspielige und langwierige Angelegenheit. Umso größer ist das Interesse an neuen Methoden und innovativen Ideen, die hier helfen können. Eine überraschend günstige und ebenso effektive Methode ist beispielsweise der hormonfreie FERTI-LILY-Cup, der nach dem Sex eingeführt wird, um möglichst viele Spermien in die Gebärmutter zu leiten, und die Schwangerschaftswahrscheinlichkeit in klinischen Tests um 48 % ansteigen ließ.
Auch das Unternehmen Selectivity Life setzt darauf, kostspielige und belastende Prozeduren in Kliniken zu vermeiden, die für viele Menschen auf der Welt ohnehin kaum erreichbar sind. Stattdessen sollen Paare mit einem Kinderwunsch sich diesen im eigenen Zuhause erfüllen können. In einem ersten Schritt ließ sich Selectivity Life ein medizinisches Gerät mit einer Biomembrane zur qualitativen Selektion von Spermazellen patentieren, dass die gesündesten und mobilsten Spermien ohne Beeinträchtigung ihrer DNA-Integrität aussortiert. Mit dem Gerät, das in Lateinamerika bereits angeboten wird, ist jetzt eine künstliche Befruchtung in jeder gynäkologischen Praxis möglich. Das nächste Ziel ist klar: eine künstliche Befruchtung in den eigenen vier Wänden.

KI erkennt Erblindungsgefahr >>> Dass die Bedeutung von Künstlicher Intelligenz und Deep Learning in der medizinischen Diagnostik stetig zunimmt, ist keine Überraschung, denn es wird immer wichtiger, oftmals winzige Details zu erkennen und entsprechend auszuwerten. Wenn vorhandene Erkenntnisse dann von Experten in ein neuronales Netz eingespeichert werden, um als Vergleichsbasis für das Erkennen von Krankheitsindikatoren zu dienen, werden erstaunliche Fortschritte möglich. So ist es der Firma Ubotica Technologies im Rahmen einer Innovationsmaßnahme der fortiss GmbH jetzt gelungen, ein auf Deep-Learning-Prozessen basierendes neuronales Netz zu entwickeln, das in der Lage ist, Anzeichen einer diabetischen Retinopathie auf der Netzhaut zu erkennen – einer Krankheit, die im schlimmsten Fall zur Erblindung führt. Das Besondere dabei ist: Das Gerät ist nicht auf die Einspeisung von Patientendaten in eine cloudbasierte Auswertungssoftware angewiesen, was nicht nur aufwendig wäre, sondern auch aus Datenschutzgründen bedenklich. Es gelang den Entwicklern nämlich, das erforderliche neuronale Netz auf einem stark verkleinerten Chip zu speichern, der direkt in die Kamera verbaut ist. Hier werden die Bilder der Netzhautuntersuchung von der KI dann mit denen der an der Retinopathie erkrankten Patienten verglichen, sodass der entsprechende Verdacht noch während der Untersuchung angezeigt wird.

Auf Patient:innen zugehen >>> Gesellschaftliche Gesundheitsfürsorge bedeutet nicht nur, dass medizinische Institutionen erkrankten Patient:innen Diagnosen und Therapien anbieten, ebenso wichtig ist die Prävention von Erkrankungen. In all diesen Bereichen ist es von Vorteil, wenn Patient:innen sich aktiv und eigenverantwortlich beteiligen. Diese Erkenntnis führt zu vielen neuen und innovativen Ansätzen, beispielsweise im Bereich der Patientenerfahrung. Wenn Prostatatests in US-amerikanischen Kliniken angeboten werden, die wie Fitnessstudios aussehen, um Männern zu helfen, ihre Schwellenangst zu überwinden, oder Banken „Fitnesskonten“ mit besseren Verzinsungen für diejenigen anbieten, die nachweisbar sportlichen Aktivitäten nachgehen. Mit den richtigen Fitnesstracker-Ergebnissen sind längst auch günstigere Lebensversicherungskonditionen erhältlich. Handys und die sogenannten Wearables spielen bei Innovationen wie diesen eine immer wichtigere Rolle. Beispielsweise veröffentlichte Nestlé in China eine App, die auf der Basis von Fotos von Mahlzeiten personalisierte Vitamin-Empfehlungen abgeben kann, und intelligente Büstenhalter können ihre Trägerinnen auf Veränderungen aufmerksam machen, die frühe Stadien von Brustkrebs anzeigen könnten.

Im Kampf gegen den Krebs >>> Weil Krebs weiterhin zu den gefährlichsten Erkrankungen zählt, wird weltweit intensiv an erfolgreichen Therapien für die vielen unterschiedlichen Krebsformen gearbeitet. An der Universitätsmedizin Göttingen wurden jetzt vielversprechende Ansätze zur Behandlung einer besonders tödlichen Erkrankung entdeckt, des metastasierenden Bauchspeicheldrüsenkrebs. Dieser Krebs wird meist zu spät diagnostiziert, sodass eine operative Entfernung des Tumors nicht mehr möglich ist. Außerdem ist die Mehrheit der Patient:innen gegen die verfügbaren Chemotherapie resistent. Nun haben die Forscher:innen der von der Deutschen Krebshilfe geförderten Max-Eder-Nachwuchsgruppe in der Klinik für Gastroenterologie, gastrointestinale Onkologie und Endokrinologie kürzlich die Rolle des „Roundabout-Axon-Guidance-Rezeptors 3“, kurz “ROBO3“, bei der Metastasierung und Chemoresistenz von Bauchspeicheldrüsenkrebs aufgedeckt. Dieser Rezeptor bedingt offenbar ein hochinvasives und metastatisches Tumorprofil, das jedoch durch seine genetische Hemmung in Kombination mit einem Medikament zurückgedrängt werden kann. Im Ergebnis sprechen Patient:innen dann besser auf die Chemotherapie an, sodass ihre Überlebenschancen erheblich steigen könnten.
Zwar geht es hier um eine relativ spezifische Erkrankungssituation, doch ist dies beispielhaft für die personalisierte Medizin, die gerade zu den wesentlichen Innovationsfeldern der Medizin zählt. Auf der Basis einer oftmals durch Gentechnik ermöglichten, extrem genauen Diagnose werden individuelle Therapien für einzelne Patienten entwickelt, die es ermöglichen, Wirkstoffe einzusetzen, deren exakte Wirkung effizient und nebenwirkungsarm bleibt.

Patienten als Nutzer:innen
Wenn es um eine positive Nutzungserfahrung geht, zeigt sich der Wert von Crossinnovation-Ansätzen in denen Gesundheitsbranche und Kreativwirtschaft von Beginn an bei Entwicklungsprozessen zusammenarbeiten. Um beispielsweise Kinder mit Bewegungsstörungen gezielt zur Verbesserung ihres Bewegungsverhaltens zu motivieren, programmierte die „User Experience“-Designerin Fabienne Erben, eine Studentin der Hochschule München, eine spezifische Gaming App mit Spielen für Kinder zwischen 3 und 6 Jahren. Die App ist Teil des Forschungsprojekts KORA, in dessen Rahmen eine kostengünstige aktive Orthese für die Rehabilitation und Analytik von Bewegungsstörungen bei Kindern entwickelt wird. Eltern können die Analysedaten zu den aktuellen Trainingserfolgen der Kinder dann aus der Spiele-App über einen geschützten Bildschirm abrufen.

Die Öffi-Kniebeuge
Innovationsprozesse auf dem Weg zu einer gesünderen Menschheit führen manchmal auch zu skurril anmutenden Ergebnissen. So konnten die Nutzer von U-Bahn bzw. Metro in Mexiko und Russland beispielsweise vor einigen Jahren umsonst fahren, wenn sie zuvor eine Reihe von Kniebeugen absolvierten. Ohne in nationale Klischees zu verfallen, verwundert es dabei vielleicht aber nicht, dass es in Moskau dreißig Wiederholungen und in Mexiko nur zehn für den Freifahrtschein brauchte.