Im Frei­geist sprach Göt­tin­gens wohl bekann­tes­ter Autor, der Rechts­an­walt Mar­kus Thie­le, mit dem Cha­rak­ter-Chef­re­dak­teur Ulrich Drees über wah­re Ver­bre­chen, uner­träg­li­che Recht­spre­chung und über das, was ihn wirk­lich ärgert.

Inter­view: Ulrich Drees | Fotos: Ste­phan Beu­er­mann

Herr Thie­le, wo sind Sie auf­ge­wach­sen?
In Hil­des­heim. Da bin ich als Sohn einer klas­si­schen Arbei­ter­fa­mi­lie zur Schu­le gegan­gen und habe mein Abi gemacht. Mei­nen Grund­wehr­dienst habe ich dann in Oster­ode und Hil­des­heim geleis­tet, bevor ich zum Stu­di­um nach Göt­tin­gen kam. Wäh­rend des Refe­ren­da­ri­ats war ich dann in Braun­schweig und Cel­le, kam aber nach Göt­tin­gen zurück, als mir ein Anwalt, für den ich schon wäh­rend des Refe­ren­da­ri­ats tätig gewe­sen war, anbot, als Part­ner in sei­ne Kanz­lei ein­zu­stei­gen.
Eigent­lich zog es mich eher an die Küs­te, nach Ham­burg, Kiel oder viel­leicht Schles­wig. Aber das Ange­bot war natür­lich ver­lo­ckend. Hin­zu kam, dass ich mir in den acht Jah­ren in Göt­tin­gen einen Kreis an Freun­den und Bekann­ten auf­ge­baut hat­te, der mir beim Start in den Beruf nüt­zen wür­de. Außer­dem ist Göt­tin­gen eine tol­le Stadt. Ich lebe sehr gern hier.

War­um haben Sie Jura stu­diert?
Mit­te der 80er-Jah­re war ich Mit­glied im ört­li­chen Ten­nis­ver­ein – Boris Becker hat­te gera­de Wim­ble­don gewon­nen – und da haben mir vie­le net­te Men­schen das The­ma näher­ge­bracht, allen vor­an der Prä­si­dent, der Anwalt war und mich immer wie­der zu Ter­mi­nen mit­nahm, was mir dann so viel Spaß mach­te, dass ich das auch zu mei­nem Beruf machen woll­te.

Wie kam Ihre Ent­schei­dung, Jura zu stu­die­ren, bei Ihrer Fami­lie an?
Das war eine mitt­le­re Kata­stro­phe. Ich bin weit und breit der Ein­zi­ge mit Abitur und Stu­di­um in mei­ner Fami­lie. Mein Vater arbei­te­te bei VW in Salz­git­ter und frag­te mich, ob ich noch alle Tas­sen im Schrank hät­te, als ich ihm sag­te, dass ich Jura stu­die­ren woll­te. Für ihn war das kein seriö­ser Beruf, vor allem des­halb, weil ich bereits zu einem Vor­stel­lungs­ge­spräch für eine Aus­bil­dung zum Indus­trie­me­cha­ni­ker bei VW ein­ge­la­den war. Das war damals so, dass dort 1000 Bewer­ber auf 60 freie Stel­len kamen. Wer zum Gespräch gela­den wur­de, hat­te den Aus­bil­dungs­platz prak­tisch in der Tasche. Mein Vater freu­te sich so sehr dar­über, dass ich für 30 Sekun­den dach­te: Die Freu­de kannst du ihm jetzt nicht neh­men. Doch ich wuss­te, dass ich mein Abitur machen und dann Jura stu­die­ren woll­te. Also sag­te ich ihm, dass ich nicht zu dem Bewer­bungs­ge­spräch gehen wür­de. Wir hat­ten ein sehr enges Ver­hält­nis, aber er hat dann drei Tage lang nicht mit mir gespro­chen. Das war eine ech­te Stra­fe, ich hat­te kör­per­li­che Schmer­zen. Irgend­wann stand er jedoch mit erho­be­nem Zei­ge­fin­ger in mei­nem Zim­mer und gab sein Ein­ver­ständ­nis. Nur, wenn er mit­be­kä­me, dass ich rum­bum­meln wür­de, dann sei Schluss, dann wür­de er das Stu­di­um nicht mehr bezah­len. Ich glau­be, des­halb habe ich mein Stu­di­um auch rela­tiv schnell abge­schlos­sen. Mit 28 Jah­ren war ich pro­mo­vier­ter Voll­ju­rist.

Zu Ihrer Zeit bei der Bun­des­wehr: Heu­te wird wie­der über die Wie­der­ein­füh­rung einer Wehr­pflicht dis­ku­tiert. War­um haben Sie sich damals für den Wehr­dienst ent­schie­den?
Damals waren wir in mei­nem Freun­des­kreis der Auf­fas­sung, dass in einem Angriffs­fall irgend­je­mand das Land ver­tei­di­gen müss­te. Über den Zivil­dienst habe ich nach­ge­dacht, aber das Kon­zept der Lan­des­ver­tei­di­gung gab den Aus­schlag. Wobei das eben­so klar nicht beinhal­te­te, Deutsch­land bei­spiels­wei­se am Hin­du­kusch zu ver­tei­di­gen. Nach der Mus­te­rung beim Kreis­wehr­ersatz­amt mel­de­te sich dann sogar ein Oberst­leut­nant bei mir und frag­te, ob ich nicht Kampf­pi­lot wer­den wol­le, phy­sisch erfüll­te ich alle Vor­aus­set­zun­gen. Da wir zu jener Zeit alle ein wenig wie Tom Crui­se in Top Gun sein woll­ten, habe ich sogar dar­über nach­ge­dacht – die Idee aber letzt­lich ver­wor­fen.

Haben Sie von der Erfah­rung pro­fi­tiert?
Eigent­lich eher nicht. Viel­leicht, was mein Ver­mö­gen zur Selbst­dis­zi­plin angeht.

Die Hand­lung Ihres ers­ten Romans und der Novel­le „Die Leucht­turm­wär­te­rin“, für die Sie 2012 mit dem Kul­tur­preis der Stadt und des Land­krei­ses Göt­tin­gen aus­ge­zeich­net wur­den, spie­len am Meer. Haben Sie ein Fai­ble für die Küs­te?
Dass ich damals den Publi­kums­preis erhielt, weil ich mich bei einer Abstim­mung über die Laut­stär­ke des Bei­falls knapp durch­set­zen konn­te, war ein schö­nes Gefühl. Es war das ers­te Mal, dass mei­ne lite­ra­ri­sche Arbeit in der Regi­on wahr­ge­nom­men wur­de.
Was mei­ne Lie­be zum Meer angeht, der Fun­ke ist ver­mut­lich bereits in Kind­heits­ta­gen über­ge­sprun­gen, als wir Urlau­be ent­we­der an der Ost­see oder der Nord­see ver­brach­ten. Bis heu­te mag ich das plat­te Land und die Men­schen dort oben wahn­sin­nig gern. Nach einem lan­gen Spa­zier­gang, nicht nur im Som­mer, son­dern auch im Herbst, wenn es stür­mi­scher wird, ein hei­ßer Tee oder ein Fisch­bröt­chen – das schät­ze ich immer wie­der. Häu­fig fah­re ich auch ganz allein für ein ver­län­ger­tes Wochen­en­de an die Küs­te, schal­te mein Tele­fon mög­lichst ganz ab und neh­me nur mein Notiz­buch und einen Stift oder mein Note­book mit, um an Kon­zep­ten, bestimm­ten Sze­nen oder Cha­rak­te­ren für einen Roman zu arbei­ten. Dazu brau­che ich ech­te Abge­schie­den­heit. Nach drei bis vier Stun­den dann den Reiß­ver­schluss mei­ner Jacke ganz hoch­zu­zie­hen, mei­ne Müt­ze auf­zu­set­zen und am rau­schen­den Meer ent­lang­zu­ge­hen, wäh­rend mir ein fri­scher Wind um die Nase weht, das ist ide­al.
Wobei ich dank mei­ner Frau Mari­on in den letz­ten Jah­ren auch die Ber­ge für mich ent­deckt habe, ins­be­son­de­re im Win­ter beim Ski­fah­ren.

Als Anwalt gehört das Ver­fas­sen von Schrift­stü­cken sicher zu Ihrem All­tag, aber wie sind Sie von dort zum lite­ra­ri­schen Schrei­ben gekom­men?
Das eine Schrei­ben hat mit dem ande­ren Schrei­ben im Grun­de nichts zu tun. Die Juris­te­rei ist sehr for­ma­lis­tisch und tech­nisch, da kommt es weni­ger auf Seman­tik an. Beim lite­ra­ri­schen Schrei­ben ist das völ­lig anders, hier soll es ja nicht nur inhalt­lich rich­tig sein, son­dern auch noch schön klin­gen. Und das habe ich irgend­wann ver­sucht, ers­te Kurz­ge­schich­ten ent­stan­den, 2013 dann der ers­te Roman. Ich fin­de es immer wie­der fas­zi­nie­rend, allein mit Wör­tern und Satz­zei­chen gan­ze Wel­ten ent­ste­hen zu las­sen, Figu­ren mit Ecken und Kan­ten zu erschaf­fen und Emo­ti­on zu erzeu­gen.

Heu­te schrei­ben Sie erfolg­rei­che True-Crime-Roma­ne, die nicht mehr so viel mit der Küs­te oder dem Meer zu tun haben. War­um die­ses Gen­re?
Als die „Leucht­turm­wär­te­rin“ ent­stand, arbei­te­te ich eigent­lich gera­de an dem Roman „Drei­zehn Tage am Meer“, kam aber nicht recht wei­ter und beschloss, erst ein­mal kür­ze­re Tex­te zu schrei­ben. Ein Jahr dar­auf, 2013, wur­de der Roman dann zwar von einem klei­nen Ver­lag als Taschen­buch ver­öf­fent­licht, aber letzt­lich ergab sich dar­aus nicht viel. Und da ich in der Fol­ge beruf­lich und fami­li­är sehr ein­ge­spannt war, stell­te ich das Schrei­ben erst ein­mal zurück. Als ich 2018 wie­der begann, ent­schloss ich mich, es mit True Crime zu ver­su­chen, weil ich in die­sem Gen­re mein Inter­es­se am theo­re­ti­schen Straf­recht und mei­ne Lei­den­schaft für das Schrei­ben ver­bin­den konn­te.

Sie arbei­ten haupt­be­ruf­lich als Anwalt, schrei­ben aber in ver­gleichs­wei­se kur­zer Zeit einen Roman nach dem ande­ren. Schla­fen Sie womög­lich nicht?
Oh nein, ich lie­be mein Bett. Aber in der Tat brau­che ich wäh­rend inten­si­ve­rer Schreib­pha­sen offen­bar weni­ger Schlaf als sonst. Meist begin­ne ich mit dem Schrei­ben gegen 21.00 Uhr, und je nach­dem, wie es läuft, kann es dann schon auch mal 2.00 Uhr nachts wer­den. Den­noch bin ich am ande­ren Tag zwi­schen 8.00 und 8.30 in der Kanz­lei. Das geht tat­säch­lich bes­ser, als es viel­leicht klingt – aber natür­lich nicht auf Dau­er. Ansons­ten schrei­be ich an den Wochen­en­den und im Urlaub.

Als Autor ist man auf Men­schen ange­wie­sen, die das eige­ne Schrei­ben mit ehr­li­cher und kon­struk­ti­ver Kri­tik beglei­ten. Wer erfüllt die­se Rol­le für Sie?
Mei­ne Frau Mari­on. Sie steht da ganz klar an ers­ter Stel­le. Mit ihr gehe ich wie­der und wie­der psy­cho­lo­gi­sche Hand­lungs­pro­fi­le mei­ner Figu­ren durch, glei­che sie auf Schlüs­sig­keit, auf Stim­mig­keit ab. Wenn sich zum Bei­spiel eine Poli­zis­tin bewusst über das Gesetz hin­weg­setzt und sich sehen­den Auges straf­bar macht, braucht es dazu einen über­zeu­gen­den Grund, und den erar­bei­ten mei­ne Frau und ich oft zusam­men. Ähn­lich ist die Arbeit an kon­kre­ten Sze­nen. Wie schaut das Drum­her­um aus, passt es zur Grund­stim­mung des Erzähl­ten, kann sich der Leser ein Bild davon machen. Mari­on ist im Immo­bi­li­en­be­reich tätig. Sie ver­sorgt mich mit zum Teil wirk­lich unglaub­li­chen Schau­plät­zen, die sie etwa bei ihrer Tätig­keit als Auk­tio­na­to­rin ken­nen­ge­lernt hat. Moo­re sind dar­un­ter, ein Brun­nen unbe­kann­ter Tie­fe oder  – wie im aktu­el­len Roman über­nom­men  – ein ver­fal­le­nes Bahn­hofs­ge­bäu­de mit einer Knei­pe dar­in. Und letzt­lich spre­chen wir zum Teil Dia­lo­ge nach oder vor, um zu tes­ten, ob sie natür­lich wir­ken. Zum Ende der Arbei­ten an einem Roman wohnt dann sein gesam­tes Per­so­nal bei uns in Küche und Wohn­zim­mer.

Ihre Roma­ne sind auch als Hör­bü­cher erhält­lich. Wird man da als Autor bei­spiels­wei­se in die Aus­wahl des Spre­chers oder sogar die Auf­nah­me selbst ein­ge­bun­den?
Ich hat­te bis­her immer das Glück, dass mich mein Ver­lag tat­säch­lich eng ein­ge­bun­den hat. Zumin­dest bei der Spre­cher­aus­wahl. Die Pro­duk­ti­on selbst fin­det dann aller­dings ohne mich statt.

Ihre Hör­bü­cher wur­den von einem Spre­cher ein­ge­le­sen, der auch Dani­el Craig, z. B. als James Bond, sei­ne Stim­me leiht. Wie ist das, die eige­nen Tex­te vom berühm­tes­ten Geheim­agen­ten der Welt vor­ge­tra­gen zu hören?
Das ist schon toll, gar kei­ne Fra­ge. Diet­mar Wun­der, der Spre­cher, hat eine  – wie ich fin­de  – groß­ar­ti­ge Arbeit gemacht. Er ist ja auch Schau­spie­ler und kann daher den ein­zel­nen Figu­ren noch ein­mal einen ganz eige­nen Cha­rak­ter ver­lei­hen. Wirk­lich beein­dru­ckend, und tat­säch­lich sehe ich gar nicht so sehr Dani­el Craig; ich sehe die Figu­ren mei­nes Romans.

Als Anwalt sind Sie auf Bau- und Archi­tek­ten­recht sowie das Ver­ga­be­recht spe­zia­li­siert – zu Ihren Roma­nen wür­de eher das Straf­recht pas­sen …
Schon wäh­rend mei­nes Stu­di­ums habe ich mich gern mit dem Sinn und Zweck von Stra­fe und Straf­zu­mes­sung aus­ein­an­der­ge­setzt, wenn auch weni­ger im Zusam­men­hang mit der Gerichts­pra­xis, son­dern eher mit den theo­re­ti­schen Fun­da­men­ten. Gleich­zei­tig woll­te ich auf jeden Fall als Anwalt arbei­ten. Im Straf­recht hät­te ich mir jedoch mich nur als Rich­ter oder Staats­an­walt vor­stel­len kön­nen. Straf­ver­tei­di­ger wäre nichts für mich gewe­sen. Des­sen Haupt­auf­ga­be besteht zwar aus mei­ner Sicht dar­in, Staats­an­walt­schaft und Rich­tern auf die Fin­ger zu schau­en, um Feh­ler zuun­guns­ten des eige­nen Man­dan­ten auf­zu­de­cken. Doch Straf­ver­tei­di­gung ist oft­mals dadurch gekenn­zeich­net, dass man um die Schuld des eige­nen Man­dan­ten weiß. Dann auf einen Frei­spruch hin­zu­ar­bei­ten, ent­spricht nicht mei­ner Per­sön­lich­keits­struk­tur.

Wie wirkt sich Ihr theo­re­ti­sches Inter­es­se für das Straf­recht auf Ihre Roma­ne aus?
Dar­aus ent­steht mein zen­tra­ler Ansatz. In mei­nen seit 2020 ins­ge­samt vier erschie­ne­nen Roma­nen ging es nie um eine an der Rea­li­tät ori­en­tier­te Nach­er­zäh­lung oder Doku­men­ta­ti­on. Ich grei­fe statt­des­sen die rechts­theo­re­ti­schen Grund­la­gen ech­ter Fäl­le auf und spin­ne sie in einer fik­ti­ven Hand­lung wei­ter, wenn sie noch nicht auf­ge­klärt sind, oder ich stel­le die ihnen zugrun­de lie­gen­den The­men in einer erfun­de­nen Hand­lung gegen­über.
In mei­nem aktu­el­len Roman „Zeit der Schul­di­gen“ grei­fe ich bei­spiels­wei­se einer­seits den Fall des Mor­des und der Ent­füh­rung von Fre­de­ri­ke von Möhl­mann (sie­he Side­fact) auf. Ande­rer­seits nut­ze ich den Fall des ehe­ma­li­gen Frank­fur­ter Poli­zei­vi­ze­prä­si­den­ten Wolf­gang Dasch­ner, der dem der Ent­füh­rung des Ban­kiers­sohns Jakob von Metz­ler ver­däch­tig­ten Jura-Stu­den­ten Magnus Gäf­ken „uner­träg­li­che Schmer­zen“ androh­te, wenn er nicht das Ver­steck des Ent­führ­ten preis­gä­be. Die Hand­lung ver­knüpft dann die zen­tra­len recht­li­chen Fra­gen hin­ter die­sen Fäl­len.

Wel­che wären das?
Bei Fre­de­ri­ke von Möhl­mann geht es dar­um, ob ein rechts­kräf­tig Frei­ge­spro­che­ner wegen der­sel­ben Hand­lung ein zwei­tes Mal straf­recht­lich ver­folgt und ein Straf­ver­fah­ren zu sei­nen Unguns­ten wie­der auf­ge­nom­men wer­den darf. Ein Jahr­tau­sen­de alter Rechts­grund­satz besagt, dass dies nicht zu gesche­hen hat. Schon das römi­sche Recht kann­te das „ne bis in idem“ – nicht zwei­mal in der­sel­ben Sache. Gleich­wohl führ­te die­ser kon­kre­te Fall zu der aus mei­ner Sicht uner­träg­li­chen Situa­ti­on, dass ein nach­ge­wie­se­ner Mör­der bis heu­te auf frei­em Fuß ist und zumin­dest wegen die­ser Tat auch nicht wie­der ange­klagt wer­den kann. Obwohl die Bemü­hun­gen des Vaters des Opfers sogar zu einer Geset­zes­än­de­rung führ­ten, die eine Wie­der­auf­nah­me unter engen Bedin­gun­gen erlaubt, ent­schied das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt in die­sem kon­kre­ten Fall, dass der erwie­se­ne Täter auf frei­em Fuß bleibt, weil es die abs­trak­te Rechts­si­cher­heit höher bewer­te­te als die mate­ri­el­le Gerech­tig­keit im Ein­zel­fall. Wer rechts­kräf­tig frei­ge­spro­chen ist, soll sich dar­auf ver­las­sen kön­nen. Ich fin­de aller­dings, dass die Gesell­schaft eines Rechts­staats auch den Anspruch dar­auf hat, dass ein erwie­se­ner Mör­der sei­ne gerech­te Stra­fe erhält.
Im Fal­le Wolf­gang Dasch­ners the­ma­ti­sie­re ich die Fra­ge, ob Fol­ter in einem Rechts­staat in beson­de­ren Aus­nah­me­fäl­len legi­tim sein kann, wenn dadurch gege­be­nen­falls ein höhe­res Rechts­gut geschützt wird. Im Roman ent­führt des­halb eine Poli­zei­be­am­tin den mut­maß­li­chen Mör­der, der wegen eines vor­he­ri­gen Frei­spruchs nicht mehr belangt wer­den kann, um ihn durch Fol­ter zu einem Geständ­nis zu brin­gen, was dann wie­der­um doch eine Neu­auf­nah­me des Falls ermög­li­chen wür­de. Das ist natür­lich ein Wider­spruch, doch sie hat einen ziem­lich guten Plan …

Der hier natür­lich nicht ver­ra­ten wird. Emp­fin­den Sie als Autor ange­sichts sol­cher The­men eine Ver­ant­wor­tung, es Ihren Lese­rin­nen und Lesern mit einer Wer­tung nicht zu leicht zu machen?
Ich hal­te mich als Autor bewusst bedeckt und lege Wert dar­auf, dass mei­ne Roma­ne den Frei­raum las­sen, sich ein eige­nes Bild zu ver­schaf­fen. Trotz­dem wer­de ich häu­fig gefragt, wo ich selbst ste­he. Als Jurist ant­wor­te ich dann meist: „Das kommt dar­auf an.“ Mei­nem Emp­fin­den nach gibt es für bei­de Sei­ten gute Argu­men­te. Als Jurist ist es metho­disch außer­dem nicht rich­tig, an eine recht­li­che Fra­ge­stel­lung vom Ergeb­nis aus her­an­zu­ge­hen, also dar­auf­hin zu argu­men­tie­ren. Statt­des­sen soll­te ich mir von Anfang an anschau­en, ob die gesetz­li­chen Tat­be­stands­merk­ma­le erfüllt sind. Dar­aus erschließt sich die Rechts­fol­ge. Trotz­dem ertap­pe ich mich dabei, dass ich den­ke: In Cel­le läuft gegen­wär­tig ein nach­ge­wie­se­ner Ver­ge­wal­ti­ger und Mör­der her­um und bleibt in unse­rem Rechts­staat völ­lig unbe­schol­ten. Damit kann und will ich nicht leben. Doch das ist die Kon­se­quenz der aktu­el­len poli­ti­schen und ver­fas­sungs­recht­li­chen Situa­ti­on und der dar­aus resul­tie­ren­den Recht­spre­chung.

„Anwalt mit Apfel – Sinn­bild für Sün­den­fall und Frucht der Erkennt­nis“

Könn­ten Sie sich vor­stel­len, nur noch als Autor zu arbei­ten?
Nein, defi­ni­tiv nicht. Manch­mal wäre etwas mehr Zeit zum Schrei­ben schön, aber ich arbei­te wahn­sin­nig gern auch als Anwalt. Ohne das Krib­beln und die Aus­ein­an­der­set­zun­gen vor Gericht wür­de mir wirk­lich etwas feh­len. Wenn man die Spiel­re­geln in die­sem Beruf erst ein­mal ver­stan­den hat, dann ist er unheim­lich span­nend und inter­es­sant. Es ist gut, so wie es ist.

Wo Sie Aus­ein­an­der­set­zun­gen vor Gericht anspre­chen – Sie wir­ken aus­ge­spro­chen ruhig und freund­lich. Legen Sie bei Bedarf einen Schal­ter um?
Oh, wenn man mich ärgert, kann ich auch anders. Ich wer­de dann nicht laut oder aggres­siv, aber doch sehr deut­lich. Vor Gericht ist es, glau­be ich, nütz­lich, eine gewis­se Ver­bind­lich­keit mit dem Auf­zei­gen kla­rer Gren­zen zu ver­bin­den. Mit wehen­der Robe durch den Gerichts­saal zu sprin­gen und Tira­den zu hal­ten, das hat hier­zu­lan­de auch wenig mit der Rea­li­tät zu tun. Aber wenn bei­spiels­wei­se Zeu­gen in einer Ver­hand­lung zuguns­ten einer Par­tei wis­sent­lich die Unwahr­heit sagen, kann ich schon ein­mal unge­müt­lich wer­den.

Was ärgert Sie noch?
Wenn ich mer­ke, dass mei­ne Man­dan­ten mir nicht die Wahr­heit gesagt haben. Dann ist eine rote Linie über­schrit­ten. Eben­so mag ich nicht, wenn auf der ande­ren Sei­te jemand die Unwahr­heit sagt. Wir alle strei­ten. Das ist mensch­lich. Und wenn man sich nicht einig wird, dann sind Gerich­te dazu da, für eine Sei­te zu ent­schei­den. Da darf man ruhig mit har­ten Ban­da­gen kämp­fen. Das ist legi­tim. Aber man muss bei der Wahr­heit blei­ben.

Sind Sie selbst immer ehr­lich?
Ich ver­su­che es. Manch­mal gibt es Situa­tio­nen, wie sie ver­mut­lich jeder kennt, in denen ich eine klei­ne Not­lü­ge benut­ze – meist um mich dann hin­ter­her unbe­hag­lich zu füh­len. Des­halb ver­su­che ich, im Gro­ßen und Gan­zen ehr­lich zu blei­ben, und erwar­te das auch von mei­nen Mit­men­schen.

Was beschäf­tigt Sie gera­de? Ist ein neu­er Roman in Sicht?
Zunächst gibt es in der Kanz­lei viel zu tun. Gera­de im Ver­ga­be­recht steht eine Men­ge an. Das ist toll, weil ich vie­le neue Man­dan­ten ken­nen­ler­ne und sich dadurch wie­der­um noch ein­mal ande­re Man­dan­ten­struk­tu­ren erge­ben.
Ansons­ten ist „Zeit der Schul­di­gen“ ja gera­de erst erschie­nen, und in Leip­zig auf der Buch­mes­se haben sich vie­le per­sön­li­che Kon­tak­te auf­ge­tan. Aktu­ell könn­te sich dar­aus ein mög­li­cher Ver­kauf der Film­rech­te erge­ben. Das war schon 2020 bei mei­nem ers­ten Roman im Gespräch, aber Coro­na hat das damals auf gan­zer Front ver­ha­gelt. Jetzt ist es deut­lich kon­kre­ter. Hin­zu kommt, dass sich Kon­tak­te nach Ame­ri­ka erge­ben haben, die even­tu­ell zu einer Über­set­zung ins Ame­ri­ka­ni­sche füh­ren, sodass der Roman im bes­ten Fall auf dem ame­ri­ka­ni­schen Buch­markt erscheint. Das sind vie­le klei­ne Eisen in einem gro­ßen Feu­er, und ich weiß nicht, was hän­gen bleibt. Aber unter dem Strich fühlt es sich gut an, dass so viel in Bewe­gung ist.

Falls Ihr Buch ver­filmt wird, wen wür­den Sie gern in den Haupt­rol­len sehen?
Das ist ganz schwie­rig. Es gibt so vie­le Figu­ren  – und so vie­le gute Schau­spie­le­rin­nen und Schau­spie­ler. Aber okay, mei­ne Kom­mis­sa­rin Anne Paul­sen könn­te gut von Chris­tia­ne Paul gespielt wer­den und ihr Kol­le­ge, Nick Wal­lat, viel­leicht von Wotan Wil­ke Möh­ring. Als Mör­der Vol­ker März könn­te ich mir sehr gut Oli­ver Masuc­ci vor­stel­len, der aber auch den Vater der Ermor­de­ten spie­len könn­te, Hans Lar­sen, der über 40 Jah­re für Gerech­tig­keit gekämpft hat.

Ange­sichts all die­ser Ent­wick­lun­gen rund um Ihr Schrei­ben – in Bewe­gung sein, ist das Ihr Ding?
Ein wenig ober­fläch­lich aus­ge­drückt: Still­stand ist Rück­schritt. Ich stel­le für mich auf jeden Fall fest, dass ich immer eine gewis­se Ent­wick­lung, ein gewis­ses Tem­po brau­che. Etwas, das mei­ne Frau mit mir teilt, wes­halb wir bei­de damit ganz gut klar­kom­men.

Dr. Mar­kus Thie­le (geb. 1971)
Als Fach­an­walt für Bau- und Archi­tek­ten­recht, Arbeits­recht und gewerb­li­chen Rechts­schutz arbei­tet Mar­kus Thie­le außer­dem im Bereich Ver­ga­be­recht. Er gehört seit 2013 zu den geschäfts­füh­ren­den Gesell­schaf­tern der Anwalts­ge­sell­schaft Klein­jo­hann in Ros­dorf. Mit dem bel­le­tris­ti­schen Schrei­ben begann er 2007.

Der Fall Fre­de­ri­ke von Möhl­mann
Nach der Ver­ge­wal­ti­gung und dem Mord an der 17-jäh­ri­gen Fre­de­ri­ke von Möhl­mann wur­de der ver­meint­li­che Täter Ismet H. 1982 zunächst zu einer lebens­lan­gen Frei­heits­stra­fe ver­ur­teilt, dann jedoch 1983 wie­der frei­ge­spro­chen, weil sei­ne Anwe­sen­heit am Tat­ort nicht zu bewei­sen gewe­sen sei. Bei einer gen­tech­ni­schen Unter­su­chung des Lan­des­kri­mi­nal­amts wur­de 30 Jah­re spä­ter am Slip des Opfers jedoch nach­ge­wie­sen, dass Ismet H. sehr wohl am Tat­ort war. Er wur­de erneut ver­haf­tet. Im Zusam­men­hang mit dem Fall kam es zu einer gesetz­li­chen Neu­re­ge­lung der Wie­der­auf­nah­me rechts­kräf­tig abge­schlos­se­ner Straf­ver­fah­ren inner­halb eines engen Rah­mens. Ismet H. wur­de auf Basis eines Ver­fas­sungs­ge­richts­ur­teils jedoch trotz­dem nicht erneut ver­ur­teilt.

Roma­ne
• Drei­zehn Tage am Meer – Oldi­gor Ver­lag, Rhe­de 2013
• Echo des Schwei­gens – Beneven­to Publi­shing, Wals bei Salz­burg 2020
• Die Wahr­heit der Din­ge – Beneven­to Publi­shing, Salzburg/München 2021
• Die sie­ben Scha­len des Zorns – Beneven­to Publi­shing, Salzburg/München 2022
• Zeit der Schul­di­gen. Roman nach einem wah­ren Kri­mi­nal­fall. – Lüb­be, Köln 2024