Im Stu­dio Was­ser­scheu­ne in Erb­sen sprach Cha­rak­ter-Chef­re­dak­teur Ulrich Drees mit Dr. Tho­mas Carl Stil­ler. Der über­zeug­te „Rebell“ arbei­tet als Land­arzt, ist FDP-Frak­ti­ons­vor­sit­zen­der im Kreis­tag des Land­krei­ses Göt­tin­gen und enga­giert sich für die Wald­büh­ne Brem­ke.

Inter­view: Ulrich Drees | Fotos: Ste­phan Beu­er­mann

Herr Dr. Stil­ler, obwohl Sie haupt­be­ruf­lich eine Land­arzt-Pra­xis mit zwei Nie­der­las­sun­gen in Vol­prie­hau­sen und Ade­leb­sen betrei­ben, sind Sie vie­len Men­schen in der Regi­on vor allem durch Ihre Bereit­schaft, sich in den unter­schied­lichs­ten The­men zu enga­gie­ren, bekannt. Wie emp­fin­den Sie das?
Die­ser poli­ti­sche Geist, ange­sichts eines Miss­stan­des den Mund auf­zu­ma­chen und zu kämp­fen, wur­de mir schon sehr früh bewusst. Mir ist wich­tig, mich nicht ein­fach nur zu beschwe­ren, wenn ich etwas pro­ble­ma­tisch fin­de, son­dern mich kon­struk­tiv für eine Lösung ein­zu­set­zen. Bei­spiels­wei­se erin­ne­re ich mich an mei­ne Zeit als PJler, also wäh­rend mei­nes ärzt­li­chen Prak­ti­schen Jah­res. Wir wur­den damals noch nicht bezahlt, denn es war die Zeit der „Ärz­te­schwem­me“. Also muss­te ich neben­her arbei­ten, weil ich bereits zwei Kin­der hat­te. Im Prak­ti­schen Jahr wur­den wir voll­zei­tig in der Kli­nik ein­ge­plant, so dass Neben­jobs nicht mehr mög­lich waren, zusätz­lich soll­ten wir an der Uni aber noch Park­ge­büh­ren zah­len. Ich dach­te, das kann doch nicht sein. Also habe ich einen Antrag geschrie­ben und bei der Ver­wal­tung abge­ge­ben. Als ich sah, wie die­ser in einem hohen Sta­pel ganz unten ein­sor­tiert wur­de, bin ich ein­fach direkt zum Dekan gegan­gen und habe gesagt: „Das geht so nicht. So kann ich hier nicht zu Ende stu­die­ren.“ Dar­auf­hin wur­den die Park­ge­büh­ren tat­säch­lich abge­schafft, und ich galt seit­dem als Rebell.

Sind Sie die­sem Ruf treu geblie­ben?
Ja. Als wäh­rend mei­nes AiPs ein neu­es Hoch­schul­rah­men­ge­setz ange­kün­digt wur­de, erkann­te ich, dass im Zuge der dar­in ent­hal­te­nen Ver­kür­zung der Ver­blei­be­zeit an der Uni­ver­si­tät plötz­lich auch die Dau­er der Dok­tor­ar­beit berück­sich­tigt wer­den soll­te. Dar­auf­hin habe ich bei einem Besuch des Göt­tin­ger Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­ten Tho­mas Opper­mann im Hör­saal 81vor ver­sam­mel­ter UMG-Pro­mi­nenz gesagt: „Das Gesetz ist Unsinn. Unter die­sen Bedin­gun­gen wür­den vie­le der anwe­sen­den Ärz­te wegen der Ver­blei­be­zeit ihre Ver­trä­ge nicht ver­län­gert bekom­men. “ Da dreh­ten sich alle zu mir um, als ob sie sagen woll­ten: „Was ist das denn für ein Youngs­ter? Wie­so wagt er es, sich hier zu äußern?“ Opper­manns Reak­ti­on blieb vage, die Din­ge nah­men ihren Lauf, und am Ende kam es genau so, wie ich es erwar­tet hat­te.

Nach Ihrer Pro­mo­ti­on in der Bio­phy­sik auf dem The­men­feld der Tumor­zy­to­ge­ne­tik und Strah­len­bio­lo­gie arbei­te­ten Sie zunächst in der For­schung, sind dann aber doch zur All­ge­mein­me­di­zin gewech­selt und haben nach einer Tätig­keit im inzwi­schen geschlos­se­nen Kran­ken­haus in Uslar 2006 Ihre Haus­arzt­pra­xis in Vol­prie­hau­sen eröff­net. War­um der Wech­sel?
Schon als ich mich im Zusam­men­hang mit dem anste­hen­den Hoch­schul­rah­men­ge­setz ori­en­tier­te, was ich außer­halb einer Uni­ver­si­täts­lauf­bahn machen könn­te, hat­te ich inter­es­se­hal­ber ers­te Haus­arzt-Kur­se besucht. Ich bemerk­te in die­sen Kur­sen, wie span­nend ein medi­zi­ni­scher Gesamt­blick auf den Men­schen ist. Die Mög­lich­keit, oft nur mit Gesprä­chen zu hel­fen und zu hei­len, hat mich fas­zi­niert. Da ent­deck­te ich mei­ne Lei­den­schaft für All­ge­mein­me­di­zin. Hier konn­te ich alle mei­ne Stär­ken am bes­ten umsetz­ten. Eigent­lich fand ich die neu­ro­pa­tho­lo­gi­sche For­schung zwar wirk­lich span­nend, doch ich war mir auch nicht sicher, ob ich mich mein Leben lang nur mit einem Mole­kül oder sogar nur einem Mole­kül-Teil befas­sen woll­te. Dann doch lie­ber mit dem gan­zen Leben des Pati­en­ten als Fach­arzt für All­ge­mein­me­di­zin.

Inzwi­schen arbei­ten Sie bereits seit 18 Jah­ren als Haus­arzt im länd­li­chen Raum – eine Tätig­keit, die ande­re Medi­zi­ner offen­bar so wenig attrak­tiv fin­den, dass es dort einen ech­ten Man­gel gibt.
Die­je­ni­gen, die es aktu­ell machen, machen es aus Lei­den­schaft. Der Man­gel ist an eini­gen Orten spür­bar aber es gibt auch immer mehr Umstei­ger und Quer­ein­stei­ger und auch noch die Land­arzt­quo­te in Nie­der­sach­sen. Wir ster­ben als Land­ärz­te also wohl nicht aus. Vie­le mei­ner Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen ste­hen bei ihrer Arbeit unter Zeit­stress, oft mit der Vor­stel­lung, als Land­arzt stän­dig ver­füg­bar sein zu müs­sen. Aus mei­ner Sicht beginnt die­se Stress bereits im Stu­di­um. Die Stu­die­ren­den ste­hen unter Druck und müs­sen vie­le Prü­fun­gen able­gen. Des­halb füh­len sie sich schon im Stu­di­um wie in einem Hams­ter­rad. Das setzt sich dann in der Assis­ten­arzt mit Über­stun­den fort. Erho­lungs­pha­sen sind knapp. Es ist wirk­lich wich­tig, sorg­sa­mer mit unse­rem Nach­wuchs umzu­ge­hen, denn das sind dann die­je­ni­gen, die uns spä­ter behan­deln. Die sol­len ihre Neu­gier und empa­thi­sche Moti­va­ti­on nicht ver­lie­ren, und selbst gesund blei­ben. Die Beob­ach­tung, dass vie­le Pati­en­ten zu unrecht einen Arzt oder ein Kran­ken­haus auf­su­chen, kann ich aus mei­ner Erfah­rung über­haupt nicht nach­voll­zie­hen. Für jeden Men­schen ist der per­sön­li­che indi­vi­du­el­le Bera­tungs­an­lass sehr wich­tig. Nie­mand kommt ohne Grund in eine Ambu­lanz oder Pra­xis. Wenn man dann als Arzt auch nie­der­schwel­lig z. B. durch Bera­tung hel­fen kann, ist doch viel erreicht. Wich­tig ist immer, den abwend­bar gefähr­li­chen Ver­lauf zwi­schen den vie­len „leich­te­ren“ Fäl­len nicht zu über­se­hen.

Sie wir­ken tat­säch­lich gut gelaunt und nicht gestresst.
Glück­li­cher­wei­se bin ich schon immer ganz gut mit den Belas­tun­gen klar­ge­kom­men. Viel­leicht des­halb, weil ich im Sin­ne die­ser wis­sen­schaft­lich beleg­ten zir­ka­dia­nen Rhyth­men, also der Schlaf­zy­klen, ein­deu­tig ein Eulen-Typ bin. Ich kann nachts gut aktiv sein und lan­ge wach blei­ben. Hin­zu kommt, dass ich nicht so sehr auf ein fahr­plan­ge­tak­te­tes Leben aus bin. Mur­phys Gesetz (sie­he am Ende des Arti­kels) ist mein All­tag. Erst heu­te war ich auf einem Außen­ter­min, und plötz­lich kol­la­bier­te jemand in der Men­schen­men­ge um mich her­um. In mei­ner Pra­xis war­tet hin­ter jeder Tür eine ande­re Situa­ti­on auf mich. Jemand lächelt zuerst und schil­dert dann im Gespräch, dass er dar­an denkt sich umzu­brin­gen. Ich dia­gnos­ti­zie­re eine schwe­re Erkran­kung und muss das jeman­dem mit­tei­len. Im nächs­ten Zim­mer war­tet ein Pati­ent mit einer leich­ten Erkäl­tung, die für ihn selbst aber sehr schlimm ist. Ich bin gewöhnt, zu impro­vi­sie­ren. Das soll­te man kön­nen: ruhig blei­ben, sich auf das eige­ne Kön­nen ver­las­sen, und eine Lösung fin­den, und die­se dann empa­thisch und ver­ständ­lich den Men­schen kom­mu­ni­zie­ren.

Sie sind inzwi­schen in der zwei­ten Legis­la­tur­pe­ri­ode im Göt­tin­ger Kreis­tag aktiv. Spielt da Ihre Arbeit als Haus­arzt eine Rol­le?
In der Pra­xis ler­ne ich auch von mei­nen Pati­en­ten, wo ihre Sor­gen und Nöte lie­gen. Da bin ich medi­zi­nisch aber auch poli­tisch sehr nah an den Pro­ble­men der Gesell­schaft. Ers­te poli­ti­sche Erfah­run­gen konn­te ich bereits in der Ärz­te­kam­mer sam­meln, in der ich bereits seit vie­len Jah­ren berufs­po­li­tisch tätig bin. Geht es um die Arbeit der Haus­ärz­te, den­ke ich, dass wir doch alle von einer Medi­zin pro­fi­tie­ren, die vor Ort eine gute Behand­lung ermög­licht. Das müs­sen wir erhal­ten. Schon sehr lan­ge wird auf Bun­des­ebe­ne über umfas­sen­de Refor­men gespro­chen – doch ich rufe dazu auf, die Rol­le der Haus­ärz­te zu stär­ken. Wir sind die ers­ten und wich­tigs­ten Ansprech­part­ner für klei­ne und gro­ße Pro­ble­me und die­je­ni­gen, die das Wis­sen über die neu­es­ten Behand­lungs­an­ge­bo­te in der brei­ten Bevöl­ke­rung streu­en und erklä­ren.

Das sind wich­ti­ge über­re­gio­na­le The­men. Wie kam es dazu, dass Sie sich seit nun acht Jah­ren auch regio­nal poli­tisch enga­gie­ren?
Dafür war die Art und Wei­se ver­ant­wort­lich, mit der die Pla­nung von Wind­kraft­an­la­gen vor 10 Jah­ren in der Regi­on umge­setzt wer­den soll­te. Als die ers­ten Pla­ner bei uns im Dorf den Land­wir­ten ihre Plä­ne vor­stell­ten, durf­te ich dabei sein. Hin­ter ver­schlos­se­nen Türen bei einem Gespräch in der Dorf-Gast­stät­te kam dann zur Spra­che, dass u. a. sehr vie­le Rot­mi­la­ne in dem für die Anla­gen infra­ge kom­men­den Gebiet leb­ten. Dem­entspre­chend war die Fra­ge: Dür­fen die Pro­jek­tie­rer da über­haupt etwas pla­nen? Wor­auf­hin die mein­ten, dass sie einen Bio­lo­gen an der Hand hät­ten, der, wenn die Bäu­me mit den Hors­ten ver­schwun­den wären, das schon der Behör­de erklä­ren kön­ne. Ich dach­te: „Alter, das geht gar nicht!“ Dies hat mich wach­ge­rüt­telt, mich zu enga­gie­ren. Arten­schutz und Land­schafts­schutz sind The­men, die ich seit mei­ner Jugend ver­fol­ge.
Als sich im wei­te­ren Ver­lauf in Ese­beck und Bar­ter­ode eine Bür­ger­initia­ti­ve for­mier­te, war ich mit dabei. Ich hat­te das Gefühl, dass es den Pro­jek­tie­rern nur um den Pro­fit einer klei­nen Grup­pe ging, wäh­rend die Inter­es­sen der Bür­ger und die Belan­ge der schüt­zens­wer­ten Natur kei­ne Rol­le spiel­ten. Damals zahl­te sich auch mein Erd­kun­de-Leis­tungs­kurs aus, denn ich war in der Lage, die Raum­ord­nungs­plä­ne zu inter­pre­tie­ren, und konn­te erken­nen, dass der länd­li­che Raum dar­in extrem benach­tei­ligt wur­de. Auch heu­te spielt der Arten­schutz immer eine wich­ti­ge Rol­le. Lei­der müs­sen oft erst Gerich­te dem Arten­schutz Raum geben.

Sind Sie ein Wind­kraft-Geg­ner?
Nein. Ich bin für erneu­er­ba­re Ener­gie und Wind­kraft­an­la­gen – nur mit den rich­ti­gen Abstän­den, und es soll­te nicht zu viel an einem Ort kon­zen­triert wer­den. Mensch, Natur und Tech­nik kön­nen gemein­sam exis­tie­ren. Es gibt vie­le aus­führ­lich unter­such­te Alter­na­ti­ven zur jet­zi­gen Stra­te­gie, bei­spiels­wei­se die soge­nann­te Tras­sen­bün­de­lung. Dabei geht es um die Kon­zen­tra­ti­on von Wind­kraft­an­la­gen ent­lang der Auto­bah­nen. Dort gäbe es kein Akzep­tanz­pro­blem und kei­ne Arten­schutz­kon­flik­te, und die Anla­gen wären sehr war­tungs­freund­lich. Hät­te man sich in Ber­lin dar­auf ein­ge­las­sen – die Auto­bah­nen unter­ste­hen ja der Bun­des­ho­heit – stün­den die gan­zen Anla­gen längst da. Der gan­ze klein­tei­li­ge Ärger, den wir heu­te erle­ben, wäre ver­mie­den wor­den. Weil die Poli­tik immer wie­der erklär­te, dass der ein­ge­schla­ge­ne Weg alter­na­tiv­los sei, wäh­rend die Bür­ger kei­ne Stim­me hat­ten, ließ ich mich vom FDP-Kreis­ver­band 2016 erst­mals als par­tei­lo­ser Kan­di­dat für den Kreis­tag auf­stel­len, um den Bür­gern eine Stim­me zu geben.

Inzwi­schen sind Sie nach Ihrer Wie­der­wahl 2021 eben­falls wie­der Frak­ti­ons­vor­sit­zen­der und hol­ten die meis­ten per­sön­li­chen Stim­men für die FDP, der sie nun auch ange­hö­ren. Wel­che Erfah­run­gen haben Sie dort bis heu­te gemacht?
Spä­tes­tens zur Zeit der Coro­na-Kri­se war mir klar, dass es nicht nur um die Trans­for­ma­ti­on der erneu­er­ba­ren Ener­gien im länd­li­chen Raum geht, son­dern noch um vie­les mehr. Wie imp­fen wir? Wie errei­chen wir die Leu­te? Wie erhal­ten wir die Grund­ver­sor­gung auf­recht? Es gab ein­fach so viel zu tun. Und wenn ich etwas mache, dann rich­tig. Also hat sich das immer wei­ter­ent­wi­ckelt, und irgend­wann bin ich auch in die FDP ein­ge­tre­ten. Man muss ja nicht mit allem über­ein­stim­men, aber ich bin Arzt: Des­halb darf man von mir immer einen The­ra­pie­vor­schlag erwar­ten, zur Flücht­lings­kri­se bei­spiels­wei­se: Aus der ärzt­li­chen Pra­xis weiß ich, wie wich­tig eine gute psy­cho­so­ma­ti­sche Ver­sor­gung trau­ma­ti­sier­ter Flücht­lin­ge ist, sonst fin­den sie nicht den Weg in unse­re Gesell­schaft. Dazu hat­te ich 2018 einen Antrag ein­ge­bracht, der auch ein­stim­mig ange­nom­men wur­de, obwohl wir damals nur eine klei­ne Drei­er­frak­ti­on waren. Da wur­de mir klar: Ich kann auch mit ande­ren etwas errei­chen.

Sind Sie also in der poli­ti­schen Arbeit ange­kom­men?
Ja. Man lernt mehr und mehr Leu­te ken­nen, auch sol­che, die wei­ter oben ste­hen und mehr zu sagen haben. So ver­steht man, wie Poli­tik funk­tio­niert und kann die eige­nen Sachen bes­ser vor­an­brin­gen. Das ist müh­se­lig, denn schein­bar pas­siert kaum etwas. Aber das täuscht, es geschieht nur in den Zwi­schen­räu­men. Manch­mal ist das wich­ti­ger, was wir gera­de beim Kaf­fee­holen bespre­chen, als was in der Sit­zung offi­zi­ell debat­tiert wird. Natür­lich sind die Sit­zun­gen und Aus­schüs­se wich­ti­ge Orte, bei denen Poli­tik für die Öffent­lich­keit und Pres­se sicht­bar wird. Doch noch wich­ti­ger sind die Gesprä­che vor den Sit­zun­gen, bei denen man den eige­nen Antrag viel­leicht noch ein­mal indi­vi­du­ell erklärt. Dann muss man auch von den ande­ren Frak­tio­nen Ele­men­te auf­neh­men und eige­ne Ideen anpas­sen: Also einen Kom­pro­miss fin­den, um das poli­ti­sche Pro­blem oder die Auf­ga­be für die Men­schen im Land­kreis zu lösen. Nur so fin­den sich Mehr­hei­ten. Das ist Demo­kra­tie. Das kann ich heu­te bes­ser nut­zen als zuvor.

Es scheint, als befruch­ten sich Ihre unter­schied­li­chen Tätig­keits­fel­der und Inter­es­sen­ge­bie­te immer wie­der gegen­sei­tig?
Mei­ne vie­len Inter­es­sen ergän­zen sich tat­säch­lich. Ich habe eigent­lich nie etwas gemacht, was nicht irgend­wann nütz­lich gewe­sen wäre. Bei­spiels­wei­se wur­de ich 2007 kurz nach mei­ner Nie­der­las­sung als Arzt aus hei­te­rem Him­mel mit hor­ren­den Arz­nei­mit­tel­re­gress­for­de­run­gen kon­fron­tiert. Glück­li­cher­wei­se beruh­ten die­se auf feh­ler­haf­ten Berech­nun­gen, doch als ich dem nach­ging, sah ich die Unge­rech­tig­kei­ten in die­sem Sys­tem und konn­te sie nicht ein­fach auf sich beru­hen las­sen. Also bin ich Jah­re spä­ter in den Hart­mann­bund ein­ge­tre­ten – den ältes­ten Ärz­te­ver­band über­haupt –, wo ich in Ver­an­stal­tun­gen dann auf Gesund­heits­wis­sen­schaft­ler und Gesund­heits­po­li­ti­ker traf. Dabei wur­de mir klar, dass die oft gar kei­ne Vor­stel­lung von den prak­ti­schen Sei­ten des Arzt­be­rufs haben. Dass ich hier mein prak­ti­sches Wis­sen ein­brin­gen konn­te, war von gro­ßem Nut­zen.

Gibt es noch ande­re The­men, denen Sie sich zukünf­tig noch wid­men wol­len?
Ja, der Betrei­ber der Was­ser­scheu­ne Gün­ter Quen­tin meint zum Bei­spiel, dass ich mei­ne Land­schafts­bil­der ein­mal hier aus­stel­len soll­te, und ich wäre wirk­lich neu­gie­rig, wie sich das anfühlt. Eben­so inter­es­siert wäre ich, mich ein­mal mit Musik zu beschäf­ti­gen. Das hat sich mir noch nicht so erschlos­sen. Ich habe zwar ein Gefühl dafür und kann auch rela­tiv gut erspü­ren, was musi­ka­lisch funk­tio­niert, aber das rich­ti­ge Instru­ment für mich ist mir noch nicht begeg­net.

Was wären Sie für ein Musi­ker?
Ein Rocker, so von Rocka­bil­ly bis Hard­rock. Schla­ger wären jetzt nicht so mein Ding, obwohl ich für gute Tex­te immer offen bin. Als wir letz­tens auf einem Ali­ce-Coo­per-Kon­zert in Nort­heim waren, mein­te mei­ne Toch­ter, dass sei wie bei unse­ren Pro­jek­ten. Zum einen bie­tet sei­ne Show auch viel Thea­ter, und zum ande­ren sind auch bei ihm sei­ne Frau und sei­ne Kin­der invol­viert.

Sie haben sich für unser Gespräch das Stu­dio Was­ser­scheu­ne in Erb­sen aus­ge­sucht. War­um?
Zum ers­ten Mal war ich anläss­lich einer Tau­fe hier. Mir gefällt es hier auch des­halb, weil es ein Ort von Men­schen ist, die nicht auf­ge­ben. Der Betrei­ber – der Land­schafts­ar­chi­tekt Gün­ter Quen­tin – hat schon als jun­ger Archi­tekt dar­um gekämpft, die­ses Haus reno­vie­ren zu dür­fen und dafür die nöti­gen Finanz­mit­tel zusam­men­zu­be­kom­men. Und dann hat er die Was­ser­scheu­ne als Ort für Aus­stel­lun­gen auf­ge­baut. Er und sei­ne Mit­strei­te­rin­nen und Mit­strei­ter haben einen Sinn für Kunst und haben nie auf­ge­ge­ben, gute Din­ge durch­zu­kämp­fen.

Apro­pos „für gute Din­ge kämp­fen“ – Sie enga­gie­ren sich auch für die Wald­büh­ne Brem­ke?
Das stimmt. Als sie 15 Jah­re alt waren, sind mei­ne Toch­ter und mein Sohn über ein Cas­ting an die Wald­büh­ne gera­ten – als Eltern waren wir da natür­lich inter­es­siert dabei und wur­den irgend­wann Mit­glie­der im Ver­ein. 2017 schmis­sen die damals Ver­ant­wort­li­chen aus per­sön­li­chen Grün­den hin, vier Wochen vor einer Pre­mie­re, an der auch unse­re Kin­der betei­ligt waren. Da war klar, dass wir das Ding rocken muss­ten. 2017 haben wir zunächst das schon von den Vor­gän­gern ein­ge­prob­te „Mär­chen-Aller­lei“ gespielt, bei dem auch mei­ne Toch­ter und mein Sohn dabei waren. Danach waren wir ab 2018 in der Ver­ant­wor­tung und begrif­fen, dass wir jetzt mal vie­les anders machen könn­ten. Denn viel­leicht sind man­che der Mär­chen der Brü­der Grimm ja nicht mehr so ganz zeit­ge­mäß: Wenn Eltern ihre Kin­der allein in den Wald schi­cken, wo sie einer kan­ni­ba­lis­ti­schen Hexe begeg­nen, die am Ende ver­brannt wird – das passt für mich nicht mehr in die Moder­ne. Was konn­ten wir also tun? Da kam mein Sohn auf die Idee, die Mozart-Oper „Zau­ber­flö­te“ als Mär­chen auf­zu­füh­ren. Dazu brauch­ten wir zwar neue Mikro­fo­ne, mehr Sound – ein­fach ins­ge­samt ein ganz neu­es Niveau –, aber wir haben es in die­sem Stil umge­setzt und ins­ge­samt für die Insze­nie­rung ca. 30.000 Euro auf­ge­wen­det. Auch wenn wir dafür die Ein­tritts­prei­se mode­rat anhe­ben muss­ten, um das alles wie­der ein­zu­spie­len, lief es groß­ar­tig und zog vie­le Besu­cher an.

Ihre gan­ze Fami­lie an der Wald­büh­ne – ist das jetzt ein Stil­ler-Pro­jekt?
Nein, es gibt selbst­ver­ständ­lich noch vie­le wei­te­re wich­ti­ge Mit­wir­ken­de. Aber es passt natür­lich gut, dass wir nicht immer ande­re fra­gen müs­sen, um Pro­jek­te vor­an­zu­brin­gen. Schön ist auch, dass wir uns alle so mit unse­ren Stär­ken ein­brin­gen kön­nen, dass dar­aus eige­ne Stü­cke wer­den. Ich kann noch von mei­ner Zeit bei der Wer­be­agen­tur gut lay­ou­ten, Pla­ka­te gestal­ten und mich so um die Außen­dar­stel­lung küm­mern. Mei­ne Frau ist eine sehr krea­ti­ve Dra­ma­tur­gin und Autorin, mein Sohn ein her­vor­ra­gen­der Autor und Per­for­mer, und auch mei­ne Toch­ter, die inzwi­schen Schau­spie­le­rin gewor­den ist, unter­stützt unser Gemein­schafts­pro­jekt immer wie­der pro­fes­sio­nell.

Was geschieht, wenn Sie gera­de nicht als Arzt oder Poli­ti­ker unter­wegs sind oder sich für ein Pro­jekt enga­gie­ren?
Dann kom­me ich nach Hau­se zu mei­nen Wind­hun­den – jetzt wer­den die Leu­te den­ken: „Der hat auch noch Wind­hun­de, ist der ver­rückt?“ Abso­lut nicht, denn Wind­hun­de wäh­len sich ihren Besit­zer aus, die kann man nicht abrich­ten, die gehor­chen nur, wenn sie einen mögen. Sie haben ihren eige­nen Wil­len, sind schnell, manch­mal unge­stüm, aber trotz­dem ihren Men­schen treu ver­bun­den. Das passt zu uns. Die brau­chen ihre Zeit. Und natür­lich erle­be ich ganz nor­ma­le Fern­seh­aben­de mit mei­ner Fami­lie, an denen ich gar nichts mache. Wir sit­zen rum, die Hun­de sind bei uns, und alle sind zufrie­den.

Tho­mas Carl Stil­ler
Der heu­te 55-jäh­ri­ge Tho­mas Carl Stil­ler wuchs in Nör­ten-Har­den­berg auf und absol­vier­te nach Abitur und Wehr­dienst ein Prak­ti­kum in den Berei­chen Wer­bung, Markt­for­schung und Jour­na­lis­mus. Im Anschluss stu­dier­te er vier Semes­ter Betriebs­wirt­schafts­leh­re in Göt­tin­gen, bevor er nach dem Vor­di­plom ins Fach Human­me­di­zin wech­sel­te. Er pro­mo­vier­te in Göt­tin­gen in der Bio­phy­sik auf dem The­men­feld der Tumor­zy­to­ge­ne­tik und Strah­len­bio­lo­gie. Dar­auf folg­ten kli­ni­sche Tätig­kei­ten in den Berei­chen All­ge­mein­me­di­zin, Inne­re Medi­zin, Onko­lo­gie, Tho­ra­x­chir­ur­gie, Unfall­chir­ur­gie, All­ge­mein­chir­ur­gie, Neu­ro­lo­gie und Neu­ro­pa­tho­lo­gie. Zusätz­lich absol­vier­te er eine Aus­bil­dung zum Medi­zin­con­trol­ler, eine Fach­arzt­wei­ter­bil­dung zum Fach­arzt für All­ge­mein­me­di­zin sowie Zusatz­wei­ter­bil­dun­gen in den Berei­chen Notfallmedizin/Rettungsmedizin, Ernäh­rungs­me­di­zin. 2006 über­nahm er eine eige­ne Pra­xis an den Stand­or­ten Vol­prie­hau­sen und 2017 in Ade­leb­sen.
Er zählt zu den Mit­be­grün­dern des Bünd­nis­ses für Fami­lie in Ade­leb­sen, der Pfle­ge­al­li­anz in Uslar und des Digi­ta­len Dor­fes in Bar­ter­ode und enga­giert sich für die Wald­büh­ne in Brem­ke und die Nach­bar­schafts­hil­fe Ade­leb­sen. Tho­mas Carl Stil­ler ist Mit­glied im Haus­ärz­te­ver­band, der
DEGAM (Deut­sche Gesell­schaft für All­ge­mein­me­di­zin) und im Hart­mann­bund, dabei enga­giert er sich maß­geb­lich für die Ent­wick­lungs- und Zukunfts­per­spek­ti­ven von Land­ärz­ten im Zuge des demo­gra­fi­schen Wan­dels und für die Digi­ta­li­sie­rung in der Medi­zin zum Nut­zen der ärzt­li­chen Tätig­keit.

Mur­phys Gesetz
Wenn es meh­re­re Mög­lich­kei­ten gibt, eine Auf­ga­be zu erle­di­gen, und eine davon in einer Kata­stro­phe endet oder sonst wie uner­wünsch­te Kon­se­quen­zen nach sich zieht, dann wird es jemand genau so machen.

Tho­mas Carl Stil­ler zu: „Alter­na­ti­ve Medi­zin“
Ich habe Zusatz­wei­ter­bil­dun­gen in Natur­heil­ver­fah­ren gemacht. Oft wer­de ich zur Homöo­pa­thie befragt, die als sol­che aber nicht zur Aus­bil­dung der klas­si­schen Natur­heil­ver­fah­ren gehört. Homöo­pa­thie steht heu­te bei vie­len in der Kri­tik, aber eini­ges kann auch sinn­voll sein, z. B. die homöo­pa­thi­sche Ana­mne­se. Sie ist sehr aus­führ­lich und fein­tei­lig. Wich­tig ist immer die Gren­zen zu ken­nen und Natur­heil­ver­fah­ren ergän­zend aber nicht als Ersatz zur evi­denz­ba­sier­ten und leit­li­ni­en­ori­en­tier­ten Medi­zin anzu­wen­den.

Tho­mas Carl Stil­ler zu: „Mit Impf­geg­nern umge­hen“
Das war stel­len­wei­se wild. Ich wur­de ange­schrien und beschimpft, selbst Kol­le­gen, mit denen ich Abitur gemacht hat­te, mein­ten: „Du impfst? Du spinnst doch!“ Da fra­ge ich mich, hat der denn im Fach Immu­no­lo­gie nicht auf­ge­passt? Doch mit den Pati­en­ten bin ich immer wie­der in das Gespräch gegan­gen, habe Fra­gen gestellt und erklärt. Dabei hat mir sehr gehol­fen, dass ich schon immer bio­lo­gi­sche und mole­ku­la­re Vor­gän­ge gut visua­li­sie­ren konn­te, weil dabei in mei­nem Kopf Bil­der ablau­fen, die an einen Trick­film erin­nern – und die zu beschrei­ben, das hilft in sol­chen Situa­tio­nen. Trotz man­cher Kon­tro­ver­sen bin ich jemand, der für die Men­schen kämpft, ein wenig wie der Arzt Quin­cy aus der Fern­seh­se­rie Ende der 70er-Jah­re. Die fand ich immer sehr moti­vie­rend, weil Quin­cy, im Unter­schied zu den ande­ren, nicht ange­passt war und Zivil­cou­ra­ge hat­te. Das fand ich cool.