Ende Dezember 2024 kam es in der S-Arena Göttingen auf dem 42. Einbecker Brauhaus Cup zu einem gewalttätigen Tumult.
Von Beleidigungen bis zu körperlichen Angriffen geht es im Amateurfußball immer rauer zu. Zuletzt schlug auf dem Einbecker Brauhaus Cup ein Zuschauer einen Schiedsrichter. Hat der Sport ein Gewaltproblem?
Text: Ulrich Drees | Fotos: Kristin Schild, Adobe Stock. privat
Von Beleidigungen über Diskriminierungen bis zu Fausthieben. Gewalt im Amateurfußball kann viele Formen annehmen. Ein genauerer Blick auf das, was sich im vergangenen Dezember während des Einbecker Brauhaus Cups in der Sparkassen-Arena ereignete, verdeutlicht die Komplexität der Situation.
Tumult in der Sparkassen-Arena >>> Nach einem Spiel zwischen Sparta Göttingen und dem Bovender SV, bei dem es um das Vorrunden-Aus ging, kam es im Dezember letzten Jahres auf dem Einbecker Brauhaus Cup in der Sparkassen-Arena zu einem Tumult am Tisch der Turnierleitung. Spieler von Sparta Göttingen beschwerten sich über unfaire Entscheidungen durch die verantwortliche Schiedsrichterin, die im Verlauf des Turniers drei Spiele mit Sparta-Beteiligung gepfiffen hatte. Durch aus Sicht der Spieler zu harte Zeitstrafen, beispielsweise deshalb, weil ein eingewechselter Sparta-Spieler über die Bande aufs Feld gesprungen war, habe der Verein den Vorrundenentscheid letztlich deutlich verloren. Im Verlauf des nur wenige Minuten währenden Tumults, der von Videokameras aufgezeichnet wurde, gelangten von der Zuschauertribüne her Sparta-Fans zum Geschehen – ob vorbei an den Ordnern des eingesetzten Sicherheitsdienstes oder nicht wird unterschiedlich berichtet. Nach schweren Beleidigungen gegen die Schiedsrichterin seitens der Sparta-Spieler zeigte ein hinzugekommener Schiedsrichter dann einem der Spieler eine rote Karte, woraufhin ihn einer der Fans, ein naher Verwandter des Spielers, ins Gesicht schlug.
Daraufhin ließen die Turnier-Veranstalter Thorsten Tunkel (SVG) und Lutz Renneberg (FC Grone) über den Sicherheitsdienst die Polizei rufen, die in der Folge Ermittlungen wegen einfacher Körperverletzung und Beleidigung aufnahm. Nach dem Angriff weigerten sich die Schiedsrichter, das letzte Spiel des Abends zwischen Weende und Hettensen zu leiten, da sie ihre Sicherheit auf dem Turnier nicht mehr gewährleistet sahen. Eine Betreuerin musste einspringen. Im weiteren Verlauf schlossen die Vereine SVG und FC Grone die drei Sparta-Spieler sowie deren Anhänger im Zuschauerbereich lebenslang von dem Freundschafts-Turnier und den vereinseigenen Fußballplätzen in Göttingen aus.
Im Februar dieses Jahres verhängte das zuständige Sportgericht in einer nicht öffentlichen Verhandlung Geldstrafen gegen zwei der beteiligten Spieler, gegen die Mannschaft und gegen den Verein Sparta Göttingen, der u. a. für das Verhalten seiner Fans verantwortlich gemacht wurde. In der Folge legte Sparta Göttingen, vertreten durch den Göttinger Rechtsanwalt Karl-Heinz Mügge, in Teilen Berufung gegen das Urteil des Sportgerichtes ein. Auf der Basis sich widersprechender Zeugenaussagen könnten die beleidigenden oder diskriminierenden Äußerungen den Spielern nicht eindeutig zugeordnet werden. Die groben Beleidigungen seien vielmehr aus den Reihen der Zuschauer gekommen. Weder dafür noch für den Angriff könne der Verein verantwortlich gemacht werden.
Beispielhaft oder Einzelfall? >>> Umstrittene Schiedsrichterentscheidungen, Beleidigungen und Gewalt, einzelne Spieler, Trainer, Betreuer, Schiedsrichter, eine Schiedsrichterin, Vereinsfunktionäre und Fans – hier finden sich alle Zutaten, die auch auf einer übergeordneten Ebene mit Gewaltvorkommnissen zu tun haben könnten. Wie beschreiben die Akteure die Lage?
Was sagen beispielsweise die Spieler von Sparta Göttingen? Einer von ihnen – Name der Redaktion bekannt – wurde vom Bezirkssportgericht zu einer Geldstrafe und einer Sperre von vier Pflichtspielen verurteilt. „Das Ganze hatte eine Vorgeschichte“, erklärt er im Charakter-Interview. „Schon als ich die Schiedsrichterin nach dem ersten Spiel auf ihre aus unserer Sicht überzogenen Zeitstrafen aufmerksam machen wollte, hatte ich das Gefühl, dass sie das sofort in den falschen Hals bekommen hat. Auch beim nächsten Spiel war sie mit uns einseitig sehr streng. Hinzu kamen noch für mich völlig unnötige Kommentare des Stadionsprechers, dass „wir uns die Eier selbst ins Tor legen würden“. Das führte bei uns zu einer immer gereizteren Stimmung. Sicher habe auch ich gemeckert, aber letzten Endes habe ich einfach akzeptiert, dass das Spiel verloren war.“ Den Angriff auf den Schiedsrichter findet er „zu 100 Prozent absolut falsch.“ Dass er von weiteren Teilnahmen am Brauhaus Cup ausgeschlossen wurde, versteht er nicht. „Ich habe niemandem etwas getan“, erklärt der 33-Jährige. „Auch wenn ich als Jugendlicher vielleicht mal hitzköpfig war, jetzt bin ich Vater eines 11-jährigen Sohns, dem ich als gutes Vorbild zeigen will, wie man so ein Turnier einfach anständig spielt und keinen Stress macht. Genauso habe ich mich auch verhalten. Was soll ich eigentlich noch tun?“ Dass nirgends darüber berichtet wurde, dass es auf dem Turnier am Folgetag einen weiteren Tumult gab, bei dem Leute aus zwei deutschen Mannschaften von der Security rausgetragen werden mussten, lässt für ihn nur eine Vermutung zu: „Die Leute mögen einen Roma wie mich einfach nicht und wollen uns an den Pranger stellen! Dabei bin ich in Göttingen groß geworden. Meine Familie lebt schon so lange hier, dass wir wirklich viele Leute kennen. Und jetzt muss ich mich vor denen rechtfertigen, obwohl ich wirklich nichts getan habe.“
Aus Sicht von Lutz Renneberg, Vorsitzender des FC Grone, der das Turnier mitorganisierte, war der lebenslange Ausschluss gegen den Roma und die beiden anderen Spieler hingegen eine klare Konsequenz ihres Fehlverhaltens. „Die Schiedsrichterin ist die höchstklassigste, die wir in der Region haben. Sie war auch wirklich gut. Einige ihrer Entscheidungen gegen Sparta waren hart, aber alles war vertretbar.“ Er erweitert den Hintergrund der Eskalation. „Meine Hauptkritik an Sparta ist, dass während des Spiels weder Trainer noch Betreuer oder andere Spieler versucht haben, die drei verwickelten Spieler zu beruhigen. Die Beleidigungen gegen die Schiedsrichterin waren derart unterirdisch und frauenfeindlich, dass sie nicht umsonst auch eine zivilrechtliche Klage nach sich zogen. Beleidigungen, Beschimpfungen und Gewalt sind überall verboten, auch beim Fußball und müssen bestraft werden.“
Für Christian Rahlfs, den Vorsitzenden des Kreis-Schiedsrichterausschusses Göttingen-Osterode, und Reinhard Plüschke, Mitglied des Schiedsrichterausschusses und seit 50 Jahren aktiv, besteht eindeutig Handlungsbedarf, denn die Beleidigungen gegenüber Schiedsrichtern nehmen aus ihrer Sicht zu. „Es gehört zum Fußball, dass man sich in die Beine grätscht“, so Christian Rahlfs, aus dessen Sicht noch immer 95 % aller Spiele unproblematisch verlaufen. „Aber das Ganze hat eine andere Qualität bekommen.“ „Wir werden auch immer öfter gleich mit ganzen Gruppen konfrontiert“, ergänzt Reinhard Plüschke. „Diejenigen, die früher beruhigend eingewirkt haben, halten sich heute eher im Hintergrund zurück und lassen die anderen Theater machen. Angesichts von Beleidigungen, wie sie beim Brauhaus Cup fielen, müssen wir sagen: bis hierher und nicht weiter! Wie weit wollen wir hier alle noch gehen?“
Was sagen die Zahlen? >>> Gewaltvorkommnisse gab es im Amateurfußball auch schon in den 80er- und 90er-Jahren. „Die Fälle damals standen den aktuellen in nichts nach“, erklärt Dr. Thaya Vester vom Institut für Kriminologie der Juristischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen, die sich seit 15 Jahren mit der Situation beschäftigt. „Sie wurden nur nicht so überregional wahrgenommen. Geht es heute irgendwo zur Sache, filmt sofort jemand mit einer Handykamera, und die Aufnahmen verbreiten sich rasend schnell.“
Genauere Aussagen sind aus ihrer Sicht auf der Basis der aktuellen Datenlage schwierig. Das zur Saison 2014/2015 eingeführte Meldesystem des DFB, bei dem Schiedsrichter im Rahmen des elektronischen Spielberichts Ja/Nein-Abfragen beantworten, ist für wissenschaftliche Zwecke aus unterschiedlichen Gründen nicht ausreichend. „Im Ernstfall gibt es vielleicht nur deshalb keine Gewaltmeldung“, so Thaya Vester, „weil der Schiedsrichter niedergeschlagen wurde und bewusstlos am Boden lag. Zwar passiert das Gott sei Dank extrem selten, aber es kommt vor.“ Wirklich präzise Zahlen bieten für Thaya Vester eigentlich nur die dokumentierten Spielabbrüche wegen Gewaltvorkommnissen.
Während der Corona-Zeit, in der wegen vieler Spielausfälle zuletzt nur 300 gewaltbedingte Spielabbrüche gezählt worden waren, gab es zwar die Hoffnung auf ein Nachlassen des bis zur Saison 2018/2019 mit 685 Abbrüchen kontinuierlichen Anstiegs der Gewalt, doch die wurde nicht erfüllt. Schon 2020/21 kam es zu einem sprunghaften Anstieg auf einen Rekord von 945 Abbrüchen. 2022/2023 folgte mit 963 Abbrüchen ein weiterer Rekord, und erstmals starb mit dem 15-jährigen Paul P. im Mai 2023 auch ein Spieler nach dem Angriff eines anderen Jugendspielers auf einem Fußballplatz. 2024 führte der DFB dann neue Deeskalations-Möglichkeiten für Schiedsrichter ein, und die Zahl sank in der Saison 2023/2024 auf 909 Abbrüche (Quelle: de.statista.com). Zwar war daraufhin im Fußball die Rede von einer Trendwende, Thaya Vester sieht die aber nicht. „Der dritte Negativrekord in Folge wäre eine Katastrophe gewesen. Noch liegt die Zahl jedoch deutlich über dem Vor-Corona-Niveau.“
Weshalb mehr Gewalt? >>> Angesichts von ca. 1,5 Mio. Spielen in einer typischen Saison wirken selbst knapp 1.000 Spielabbrüche noch nicht sehr bedrohlich, doch die steigenden Zahlen geben einen Trend wieder und beschreiben eben vor allem die Spitze eines zumindest wahrnehmbaren Eisbergs – zu deutlich sprechen alle direkt Beteiligten von einer Verschlimmerung der Lage.
Der Schiedsrichter Christian Rahlfs sieht einen erhöhten gesellschaftlichen Druck als Grund für die allgemeine Zunahme der Gewalt: „Gerade an Wochentagen lassen die Spieler den ganzen Druck raus, der sich im Beruf oder in der Berufsschule angestaut hat.“ Für ihn und Reinhard Plüschke tragen auch Trainer und Eltern Verantwortung. „Wenn es eine Schiedsrichterentscheidung gibt, die der Trainer oder die Eltern am Spielfeldrand lautstark kritisieren, dann übernehmen Spieler dieses Verhalten“, so Reinhard Plüschke. „Gerade Jüngere werden dann aggressiv gegen die Gegenspieler und teilweise sogar gegen Schiedsrichter.“
Auch Thaya Vester spricht von Spuren, die all die multiplen Krisen der Gegenwart hinterlassen. „Im Fußball konzentrieren sich gesellschaftliche Missstände“, erklärt sie. „Er wirkt wie ein Brennglas. Selbst banale Einwürfe kochen ganz schnell hoch. Oft treffen auch Personengruppen und Schichten aufeinander, die sich in anderen Kontexten nicht begegnen. Das sorgt zwangsläufig für Konflikte.“
Beim Mannschaftsspiel Fußball geht es immer auch um ein „Wir“ gegen „Die“. Wenn sich beide Mannschaften erkennbar voneinander unterscheiden, weil ihre Herkunftsländer unterschiedlich sind, sie aus der Stadt oder vom Land kommen oder die eine aus dem wohlhabenden und die andere aus dem armen Stadtviertel, dann kann diese Konfrontation leicht eskalieren. Hinzu kommt: Gerade im Amateurfußball, wo die Mannschaften nicht aus „eingekauften“ Profis bestehen und oft aus derselben Region stammen, kann solch ein Konflikt dann nicht nur leicht über den Platz hinaus wirken, sondern sich auch verstetigen. Hört man sich beispielsweise im Göttinger Amateurfußball um, entsteht leicht der Eindruck, dass jeder weiß, wo er die „Bad Boys“ verortet und welche Mannschaften anhaltende Rivalitäten pflegen.
Ein Schwerpunktthema >>> Aus dieser Perspektive ist klar, dass auch die Rolle von Menschen mit Migrationshintergrund angesprochen werden muss, wenn es um Gewalt auf Fußballplätzen geht. Zweifellos erfüllt der deutsche Amateurfußball seit Jahrzehnten eine wichtige integrative Aufgabe, da er kaum Einstiegshürden aufbaut und unabhängig von elterlicher Bildung oder Kapital individuelle Leistung und Engagement belohnt. Wie andere Mannschaftssportarten auch vermittelt er seinen Spielern von Kindesbeinen an wichtige gesellschaftliche Werte. Deshalb spielen Menschen mit z. B. türkischer, italienischer, marokkanischer, libanesischer, polnischer, syrischer oder kurdischer Herkunft oft schon seit Generationen in den lokalen Traditionsvereinen, wo sie sich allerdings oft in einzelnen von bestimmten Herkunftsländern dominierten Mannschaften konzentrieren, oder haben eigenständige Fußballvereine gegründet. Und so kann es dann dazu kommen, dass selbst bei Freundschaftsturnieren, wie dem Einbecker Brauhaus Cup, plötzlich nicht nur Mannschaften, sondern Roma gegen Türken, Dorfmannschaften oder Studenten gegeneinander spielen. Fußball kann eben genauso eine integrative Erfolgsgeschichte sein wie zu kultureller Abschottung führen.
Der Schiedsrichter Christian Rahlfs sieht das Problem auch in Göttingen. „Wir haben hier mehrere Schwerpunkte“, erklärt er, „in Grone, bei Sparta und beim Hainberg. Alle betreiben Integrationsarbeit unterschiedlicher Qualität. Einige gehen mit auffälligen Spielern sehr konsequent um, andere bieten Leuten, die sich nicht an Spielregeln halten, sogar noch eine Heimat. Ich fordere hier klar – und da nehme ich auch sämtliche Vereinsverantwortliche in die Pflicht – nach einem Vorfall wie beispielsweise dem im Brauhaus Cup, sehr konsequent auch mit Rausschmissen zu reagieren und nicht einfach zur Tagesordnung überzugehen. Das nicht zu tun, ist für mich falsch verstandene Integration.“
Eine vom DFB in Auftrag gegebene Sonderauswertung gewaltbedingter Spielabbrüche in den Spielzeiten 2018/2019 und 2019/2020 zeigte eine überproportionale Beteiligung von Mannschaften, deren Vereinsname auf einen Migrationsbezug hindeutet. Diese Vereine stellen 4,2 % der deutschen Fußballvereine, tauchten bei Spielabbrüchen aber mit 12,6 % als Heim- und 15 % als Gastmannschaften auf, sowohl auf Täter- als auch auf Opferseite. Zu 15,8 % der Spielabbrüche kam es allerdings auch, weil eine der beiden Mannschaften das Spiel nicht mehr fortsetzen wollte – in vielen Fällen nach rassistischen Beleidigungen gegenüber Mannschaftsmitgliedern.
Geht es um den Zusammenhang mit dem Thema Migrationshintergrund, erklärt die Kriminologin Thaya Vester in Übereinstimmung mit vielen anderen Fachleuten, dass klar belegt ist, dass vor allem die Faktoren Geschlecht, Bildung und Lebenssituation eine maßgebliche Rolle beim Auftreten von Gewalt spielen. Jedoch kann natürlich auch das Gefühl einer ungerechten Behandlung, Benachteiligung oder konstanter Angriffe oder Diskriminierung zu Aggression gegen andere führen. Darauf weist auch Bernard Marks hin. „Gewalt entsteht ja nicht im Affekt, weil der Ball gerade nicht ins Tor gegangen ist“, meint er. „Sie staut sich auf. Es gibt einen im Hintergrund schwelenden Prozess, der dafür sorgt, dass dieser die Gewalt zum Ausdruck einer allgemein großen Frustration in unserer Gesellschaft werden lässt. Ob in der Schule oder im Berufsleben, im Straßenverkehr oder beim Einkaufen, die Roma erleben jeden Tag Anfeindungen wegen ihrer Herkunft. Das hinterlässt Spuren bei den Betroffenen.“
Um das klar zu sagen, weder der Sparta-Präsident noch sonst jemand will damit verbale oder körperliche Gewalt auf dem Sportplatz entschuldigen. „Wir haben bei Sparta einen Verhaltenskodex, der unser Auftreten auf dem Platz klar festgelegt“, erklärt Bernard Marks. „Als Verein stehen wir für Werte wie Respekt und den Schutz von Minderheiten – ob es nun um einen Migrationshintergrund, das Bildungsniveau oder möglicherweise eine Behinderung geht. Auch jegliche Form der Diskriminierung gegen Frauen tolerieren wir in keiner Weise. Diesen Kodex haben alle Spieler durchgelesen, unterschrieben und sich verpflichtet, ihn auf dem Spielfeld umzusetzen. Kommt es dennoch zu Unsportlichkeiten, muss derjenige die Strafe selbst bezahlen.“
Wer etwas gegen Gewalt unternehmen will, muss sich damit auseinandersetzen, wie sie entsteht. Dazu gehört auch, dass im Fußball diskriminierende Äußerungen nicht selten auch rein „taktisch“ eingesetzt werden, um dafür möglicherweise anfällige Spieler so aus der Fassung zu bringen, dass sie sich nicht mehr auf ihr Spiel konzentrieren können. Der klassische Spruch über die Mutter ist da noch eines der harmloseren Beispiele.
Nicht zuletzt kann sich ein Gewaltvorkommnis auch aus Konflikten zwischen einzelnen Gruppen mit jeweils unterschiedlichen Herkunftsländern ergeben. Thaya Vester merkt z. B. an, dass schon während des Jugoslawienkriegs „bei bestimmten Mannschaftskonstellationen manchmal 4500 Menschen zu eigentlich unwichtigen Spielen kamen. Das hatte dann was von Stellvertreterkriegen. Insgesamt ist unzweifelhaft“, so die Kriminologin, „dass wir im Zusammenhang mit Migration oder Herkunft sehr, sehr viele Konfliktlinien haben und dass wir uns diesen unbestreitbaren Schwerpunkt deshalb sehr genau anschauen müssen.“
Und nun? >>> Um etwas gegen weitere Zunahme von Gewalt nach Corona zu unternehmen, führte der DFB zur Saison 2024/205 zwar das DFB-STOPP-KONZEPT ein. Christian Rahlfs begrüßt das Konzept, eine Trendwende schaffe es jedoch eher nicht. „Wir hatten auch vorher schon ähnliche Möglichkeiten“, so der Schiedsrichter. „Entscheidend sind letztlich Persönlichkeit und Erfahrung des jeweiligen Unparteiischen.“ Durchaus selbstkritisch sehen er und Reinhard Plüschke, dass Schiedsrichter unterschiedlich befähigt sind, auf eine Zuspitzung sinnvoll zu reagieren Das Thema Gewalt stärker in die Ausbildung von Schiedsrichtern zu integrieren, ist angesichts des ohnehin immer mehr sinkenden Interesses an der ehrenamtlichen Tätigkeit jedoch nicht so einfach. „Wir ignorieren das nicht, greifen es aber eher bei der Weiterbildung auf“, erläutert Christian Rahlfs. „Alles andere wäre angesichts unserer Nachwuchsprobleme kontraproduktiv.“
Nachwuchsprobleme im Ehrenamt. Noch ein gesellschaftlicher Trend, der das Problem vermutlich verschärft, denn sicher spielen die Ehrenamtler in den Vereinen eine entscheidende Rolle bei der Gewaltprävention. Ein Verhaltenskodex, wie ihn der Sparta-Präsident ansprach, ist hier ein erster Schritt in Richtung effektiver Präventionsarbeit – ausreichen wird er nicht. „Eigentlich sind Fußballvereine ein ideales Instrument der Integrationsarbeit“, meint Bernard Marks. „Doch wir brauchen auch die Ehrenamtlichen, die das leisten können. Aktuell schaffen wir es gerade einmal, unseren Status Quo aufrechtzuerhalten. Umso wichtiger ist es, die aktuelle Sportförderungsstrategie zu überdenken, damit wir unseren Aufgaben besser nachkommen können. Dazu ist es sicher wenig zielführend, wenn sich Fußballvereine deshalb noch untereinander verfeinden.“
Mehr Geld für die Sportförderung forderte auch Lutz Renneberg als wohl prominentestes Sprachrohr des regionalen Amateurfußballs bereits im vergangenen Jahr. „Durch verbesserte Rahmenbedingungen können wir über die Ehrenamtlichen in den Vereinen durchaus eine effektivere Präventionsarbeit realisieren“, erläutert er im Interview. „Das beginnt schon dabei, dass wir mit einer höheren, städtischen Sportförderung leichter Menschen dafür interessieren können, sich zum Trainer oder Übungsleiter ausbilden zu lassen. Wir brauchen mehr Menschen, die sich engagieren wollen – dafür müssen Ausbildungskosten und Aufwandsentschädigungen finanziert werden.“
Die Zunahme der Gewalt auf den Amateurplätzen steht für ihn klar im Zusammenhang damit, dass seitens der Politik „die Veränderungen in unserer Gesellschaft – insbesondere im Freizeitverhalten – zu lange ignoriert wurden. Irgendwie müssen die Menschen ihre Freizeit ja verbringen“, erläutert er, „und diejenigen mit Sprachproblemen oder Migrationshintergrund, die gehen halt nicht ins Theater, Kunsthäuser oder ins Klassik-Konzert, die gehen überwiegend in den Sportverein – vor allem viele Kinder.“
Am Ende bleiben vor allem zwei Erkenntnisse. Die Verantwortlichen in der regionalen Vereinsszene würde ziemlich sicher davon profitieren, bestehende Differenzen beiseitezulegen und gemeinsam an Lösungen für die verbreiteten Probleme zu arbeiten. Ganz offensichtlich stehen darüber hinaus alle Akteure im Amateur-Fußball vor einer großen Aufgabe. Da das Ausmaß an Gewalt auf den Plätzen aller Wahrscheinlichkeit nach jedoch gesamtgesellschaftlich bedingt ist, können sie diese Aufgabe nicht allein lösen. Hier ist jeder Fußballfan, Aktive und Funktionär gefordert, ebenso sind es der Profi-Fußball, die Politik und die Gesamtgesellschaft. Denn, um auch das zu sagen, beim deutlich überwiegenden Teil aller Spiele bleibt es – unabhängig davon, welchen Hintergrund die Mannschaften haben – beim rein sportlichen Wettkampf. Die aktuelle Entwicklung ist in diesem Sinne wirklich eine Fokussierung, ein Brennglas der Gesellschaft. Dass Ausländer- oder Frauenfeindlichkeit oder die Einstellung, Gewalt sei erlaubt, sobald man sich im Recht fühlt, die eigenen Ehrvorstellungen verletzt wurden oder man einfach Druck ablassen will, sich nicht ausbreitet, dafür sind wir alle verantwortlich.
VGH-Fairness Cup
Bei diesem Wettbewerb wurden 945 niedersächsische Mannschaften aller Ligen für die Saison 2023/2024 für die Saison erfasst. Bewertet wurden von Platz 1 absteigend die Fairness der Spieler, das Verhalten der Trainer, das Verhalten der Zuschauer und das Verhalten gegenüber den Schiedsrichterinnen und Schiedsrichtern. Die beiden Vereine, die den Einbecker Brauhaus Cup ausrichten, und die beiden Vereine des letzten Spiels sind dort folgendermaßen platziert:
FC Grone: Platz 337
Bovender SV: Platz 601
SVG Göttingen: Platz 728
Sparta Göttingen: Platz 861
DFB-STOPP-Konzept
Als Teil eines Maßnahmenpakets gegen Gewalt führten der DFB und seine Verbände im Amateurbereich bundesweit einheitliche „Beruhigungspausen“ ein, Spielunterbrechungen, die Schiedsrichter einsetzen können, wenn sich die Gemüter auf dem Platz zu sehr erhitzen. Dabei werden die Mannschaften auf ein Signal hin in ihre jeweiligen Strafräume geschickt und Trainer und Kapitäne in den Mittelkreis gerufen, wo sie aufgefordert werden, ihre Mannschaften zu beruhigen, um einen Abbruch zu vermeiden.
Parallel werden Schulungen für Vereine zu deren Aufgaben und Verantwortung als Veranstalter angeboten. Künftig sollen Gewaltvorfälle gegenüber Schiris, aber auch andere Personen kompromisslos strafrechtlich angezeigt werden. Sogenannte „Kümmerer“ sollen Schiris auf allen Ebenen unterstützen.
Die Zahlen des DFB
Laut DFB wurden in der Saison 2023/2024 1.492.696 Spiele ausgetragen, für 1.476.063 Spiele wurde ein Spielbericht begonnen, für 1.288.631 Spiele wurde der Bericht auch abgeschlossen. Von diesen wurde in 0,45 % aller Fälle ein Vorkommnis unter Gewalt oder Diskriminierung gemeldet, und 0,07 % der Spiele wurden abgebrochen.
www.dfb.de/content/gewalt-und-diskriminierung-im-amateurfussball

Lutz Renneberg
Vorsitzender FC Grone, Co-Veranstalter Brauhaus Cup, Organisator und Geschätsführer Rewe-Juniorcup

Christian Rahlfs
Vorsitzender des Kreis-Schiedsrichterausschusses Göttingen-Osterode

Reinhard Plüschke
Mitglied des Schiedsrichterausschusses

Bernard Marks
Präsident Sparta Göttingen

Dr. Thaya Vester
Dr. Thaya Vester, M.A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kriminologie der Universität Tübingen. Nach dem Studium der Soziologie und der Rechtswissenschaft promovierte sie im Fach Sportwissenschaft über das Sicherheitsgefühl und die Opferwerdung von Unparteiischen im Fußballsport. Am Institut beschäftigt sie sich mit der Messung von Kriminalitätsaufkommen im Hell- und Dunkelfeld im Allgemeinen und mit Gewalt- und Diskriminierungsphänomenen im Fußballsport im Speziellen. Parallel dazu ist sie ehrenamtlich in verschiedenen Gremien des Deutschen Fußballbundes und des Württembergischen Fußballverbands engagiert, die sich mit der Bekämpfung von Gewalt und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit auseinandersetzen.