Krise. Überall. Ob real oder nicht – die Wahrnehmung ständiger, umfassender Bedrohung versetzt mehr und mehr Menschen in andauernden Stress. Umso wichtiger wird die oft unterschätzte Gelassenheit.
Text: Ulrich Drees | Foto: Adobe Stock
Cool bleiben. Das fällt heute schwer. Klimakrise, Kriege und Krankheiten – es scheint, als habe jemand die apokalyptischen Reiter von der Leine gelassen – und das direkt in unserer Nachbarschaft. Ganz natürlich machen wir uns jetzt Sorgen um die Zukunft, versuchen, uns klug zu verhalten und gut vorzubereiten, und fragen uns, wie schlimm es kommen wird. Das Problem ist nur, dafür fehlen uns oftmals die nötigen Informationen oder Mittel. Und bei der Suche danach stoßen wir nur wieder auf neue Krisen. Eine Spirale, die gerade für Menschen, die es sonst gewöhnt sind, ihr Leben erfolgreich und selbstbestimmt zu steuern, erheblichen Stress mit sich bringt.
Die Allrounder-Lösung >>> Da hilft eigentlich nur eins: Gelassenheit. Doch wie bleibt man gelassen? Um zu verstehen, wie das funktioniert, lohnt sich der Blick auf die Psychologie, bzw. Philosophie, denn in beiden Fächern ist der Begriff seit Langem ein Thema.
Für den österreichischen Psychologen und Schriftsteller Werner Stangl ist Gelassenheit beispielsweise „die Fähigkeit, das persönliche Maß zu erkennen und so in jeder Situation eine angemessene Reaktion und Handlung zu finden, ohne dabei emotionale Energien zu verschwenden”. Gelassenheit ist zutiefst ökonomisch, und gelassene Menschen verfügen über gut funktionierende Filter, die ihnen helfen, Prioritäten zu setzen, sich zu konzentrieren und unnötige Stressfaktoren auszublenden.
Wie sinnvoll diese Strategie ist, das erkannten schon antike Philosophen wie Marc Aurel und Seneca, die Begründer des Stoizismus. Ihr Ideal einer ständigen, emotionalen Selbstbeherrschung klingt für moderne Menschen etwas harsch; ein wenig stoisch zu sein, schadet jedoch nicht. Es ermöglicht uns vielmehr, unser Schicksal leichter zu akzeptieren, indem wir erkennen, dass kleinere und größere Krisen ein normaler Bestandteil unseres Lebens sind.
Ein Schritt zurück >>> Erinnern wir uns einmal daran, wie viele Krisensituationen – persönliche, berufliche und weltpolitische – wir schon erlebt haben! Wie viele davon haben wir im Großen und Ganzen ohne allzu große Schäden überstanden? Da kommt einiges zusammen, oder? Natürlich heißt das nicht, aktuelle Krisen seien nicht ernst zu nehmen. Es geht vielmehr darum zu erkennen, dass auch sie lösbar sind, dass man ihnen aus dem Weg gehen kann oder dass sie einfach irgendwann zu Ende sind. Auch wenn uns das viele glauben lassen wollen, viele aktuelle Krisen sind nicht so neu oder einzigartig, wie sie scheinen mögen.
Auf den Schritt zurück folgt ein Schritt zur Seite, damit wir zu einer objektiven Einschätzung unserer Situation kommen können. Welche Auswirkungen all der akuten Krisen betreffen mich direkt? Wie lange wird das noch anhalten? Was kann ich mit meinen Möglichkeiten konkret verbessern? Und was ist jetzt das Wichtigste? Was kann warten? Aus klaren Antworten auf diese Fragen ergeben sich sinnvolle und begründete Entscheidungen. Und schon das Wissen darum vermindert Rat- und Hilflosigkeit im Angesicht der übermächtigen Gesamtlage. Wir ermächtigen uns selbst, indem wir entweder handeln oder uns entscheiden, das Unveränderliches als genau das zu akzeptieren.
Analyse und Angst >>> Wenn Gelassenheit jedoch nur eine objektive Analyse unserer Situation und Möglichkeiten erfordert, warum fällt das so vielen Menschen so schwer? Einer der Gründe ist für Psychologen die heute immer mehr um sich greifende Außenorientierung. Wir leben in einer Welt, deren Medien längst entdeckt haben, dass sich nicht nur Sex, sondern auch Angst wunderbar verkauft. Gleichzeitig werden wir mit immer mehr Informationen darüber überflutet, wie sich unsere Freunde, Bekannten, Prominente und auch völlig Unbekannte gerade fühlen und was sie über was auch immer denken und zu sagen haben. Ob es uns gefällt oder nicht, das zeigt Wirkung. Wir sind gemeinschaftsorientiert. Wenn etwas viele Menschen beschäftigt, machen wir uns das zu eigen. Wenn sich viele Menschen Sorgen machen, dann teilen wir diese, und daraus erwachsen mächtige Gefühlslagen, die unser rationales Denken allzu leicht überwältigen können.
Heute teilen wir unsere Ängste aktiv, kontinuierlich und über große Entfernungen mit einer riesigen Zahl anderer Menschen – da ist es nicht verwunderlich, dass ihre Wirkung auf uns immer größer wird.
Erinnern wir uns an dieser Stelle an die Stoiker und ihr Ringen um emotionale Selbstbeherrschung: Was sie zum Dauerzustand auserkoren haben, bietet heute angesichts einer allumfassenden Krisenwahrnehmung eine wichtige Orientierung, um die erwünschte Gelassenheit erreichen zu können. Wir müssen erkennen, dass Unruhe und Stress, Überforderung und Sorgen nicht mehr nur darauf beruhen, dass wir rational mögliche Bedrohungen erkennen, sondern dass sie ganz entscheidend von Emotionen ausgelöst werden. Von Ängsten und Instinkten, die uns evolutionär ganz direkt davor bewahren sollen, auf irgendeiner Steppe von einem Löwen gefressen zu werden. Heute multiplizieren wir diese Prozesse ins Unermessliche. Gleichzeitig hilft es heute in einer globalen Welt mit global wirksamen Krisen nichts mehr, die Beine in die Hand zu nehmen oder zur Keule zu greifen. Vielmehr halten uns unsere Instinkte und Ängste eher davon ab, das jeweils Richtige zu tun, weil das vielfach eben keinen kurzfristigen Adrenalinschub, sondern kühles Überlegen erfordert. Schauen wir also in unser Innerstes, erkennen wir unsere Emotionen und stellen wir ihren Nutzen auf den Prüfstand.
Ablenkungsstrategien >>> Wenn wir nun erkennen, dass uns gerade weder Angst noch Aggression oder Wut helfen können, dann sollten wir etwas unternehmen, um sie loszuwerden. Lenken wir uns ab. Stress und Sorgen treten von ganz allein in den Hintergrund, wenn wir uns etwas Schönes gönnen. Einen Abend mit Freunden, ein gutes Buch, Sport, Musik, ein erfüllendes Hobby, eine Reise, frische Luft, was immer hilft. Nutzen wir es, um unsere negativen und unnützen Emotionen gegenüber der Krise durch positive zu ersetzen.
Eine andere Form von Ablenkung besteht darin, unsere Konfrontation mit der Krise bewusst zu reduzieren, also damit aufzuhören, jede verfügbare Information aufzusaugen oder ständig nach weiteren zu suchen. Ganz zu schweigen davon, dass man aufhören sollte, sich in der unendlichen Weite des Internets mit all den anderen Krisenbesorgten über Gerüchte, Meinungen, Lügen, Zorn und Ängste auszutauschen. So mancher vermeintliche Nachrichtenvorsprung nützt uns nämlich überhaupt nichts, er bereitet uns nur mehr Stress. Bei Licht betrachtet, reicht es nämlich meist, sich zweimal am Tag mit solide recherchierten und verifizierten Nachrichten zu versorgen.
Apropos Austausch: Wer sich mehr Gelassenheit aneignen möchte, sollte nicht mit selbst ernannten Experten und Chatbots in Foren spekulieren, sondern sich bewusst einen bekennenden Optimisten als Gesprächspartner suchen. Jemand, bei dem wir uns stets wundern, warum ihn so selten etwas aus der Ruhe bringt, könnte uns nämlich vielmehr helfen, eine neue Sichtweise zu entwickeln, als ein Unbekannter in einem Social-Media-Account, der unter irgendeinem Pseudonym mit uns darum wetteifert, die Welt so schwarz wie möglich zu sehen.
Gelassen handeln >>> Objektiv die eigene Situation und nicht die Krise zu analysieren, die eigenen Emotionen zu erkennen und sich von unnützen zu lösen, die eigene Aufmerksamkeit nicht mehr zentral auf die Krise zu lenken und dort aktiv zu werden, wo die eigene Energie tatsächlich etwas Positives verändern kann. Auf diesen vier Beinen steht die Fähigkeit gelassener Menschen, ihr Glas auch inmitten von Krisen halb voll zu sehen. Gelassenheit ist eine Frage der Perspektive, sie erfordert Mut zur Selbsterkenntnis und zum Eingestehen eigener Ohnmacht. Gerade das ist nicht immer einfach, denn vielen mag ein gelassener Mensch als Strauß erscheinen, der seinen Kopf in den Sand steckt. Doch das ist falsch. Gelassenheit ermöglicht uns vielmehr, lösungsorientiert zu handeln, im Angesicht der Krise einen klaren Kopf zu bewahren und sie so vermutlich am Ende so gut wie möglich zu überstehen.
So geht „gelassen“:
Wer sich gestresst fühlt und angesichts von Widerständen schnell die Fassung verliert, der profitiert von einer Steigerung seiner Gelassenheit. Hier einige Tipps:
Optimist werden: Optimistische Menschen blenden Negatives nicht aus, sie legen ihren Fokus nur auf das Positive. Das lässt sich trainieren, indem man Situationen möglichst umfassend betrachtet und sich dann auf ihre Chancen und Möglichkeiten konzentriert.
Bewusste Akzeptanz: Es lohnt nicht, Zeit und Energie auf etwas zu verwenden, was wir ohnehin nicht ändern können. Diese einfache Einsicht hilft in vielerlei Hinsicht, zu mehr Zufriedenheit und Gelassenheit zu gelangen.
Loslassen können: Perfektion ist schwer zu erreichen. Wenn wir stets und überall nach ihr streben, bauen wir einen Druck auf, der uns dauerhaft nur schaden kann, weil wir uns rasch für alles verantwortlich fühlen. Das sind wir nicht.
Selbsterkenntnis trainieren: Wer auf die eigenen Stärken und Schwächen achtet, die eigenen Vorstellungen beständig auf den Prüfstand stellt und, wo nötig, modifiziert, kann mit gesundem Selbstvertrauen durchs Leben gehen. Gekoppelt mit aktiver Beobachtung und einem objektiven inneren Dialog bildet eine reife Selbsterkenntnis eine ideale Basis für ein gelassenes Leben.
Bindungen schaffen: Wir sind soziale Wesen. Wenn wir wissen, dass es Menschen gibt, die uns im Notfall helfen, uns mit ihren Möglichkeiten unterstützen und deren Meinung unser Leben bereichert, können wir darauf vertrauen, Krisen zu meistern.
Gesund bleiben: Im Grunde ist es ganz einfach. Wer sich fit fühlt, genug schläft, Aufputschmittel und Drogen vermeidet und sich gut ernährt, hat mehr Energie und Gelassenheit – schon weil er weniger krank ist.
Bewusst abschalten: Nicht nur bei der Work-Life-Balance, sondern ganz allgemein gilt es, Stressfaktoren zu identifizieren und sich zu bestimmten Zeiten vorzunehmen, sich nicht mit ihnen auseinanderzusetzen. Das regeneriert und schafft die Basis für mehr Gelassenheit.
Emotionen steuern: Wie wir uns fühlen, bestimmt einen großen Teil unseres Lebens. Doch unsere Gefühle sind oft wenig hilfreich, wenn es darum geht, Herausforderungen oder Krisen zu begegnen. Deshalb ist es wichtig, sich zu fragen: Was fühle ich gerade und ist das hilfreich? Unnütze Gefühle sollten wir bewusst zurückdrängen.
Erreichbare Ziele setzen: Wenn wir wissen, was wir wollen, relativiert das die Bedeutung vieler Krisen und Ablenkungen von ganz allein. Wir können einordnen, was wichtig ist und was nicht, und ein Ziel zu erreichen, ist Erfolgserlebnis und Gelassenheitsbooster zugleich.