Im Unter­wegs-Inter­view unter­hielt sich Cha­rak­ter-Chef­re­dak­teur Ulrich Drees wäh­rend einer Spa­zier­fahrt durch die Umge­bung des See­bur­ger Sees mit dem den Nobel­preis­trä­ger Ste­fan Hell.

Inter­view: Ulrich Drees | Fotos: Ste­phan Beu­er­mann

Herr Prof. Hell, Sie sind in Rumä­ni­en als Bana­ter Schwa­be auf­ge­wach­sen. Ist das eine eigen­stän­di­ge Volks­ge­mein­schaft?
Ja, das war sie zu mei­ner Kind­heit. Unse­re Gemein­de hat­te rund 10.000 Ein­woh­ner, von denen die aller­meis­ten eth­nisch deutsch waren. Die Bana­ter Schwa­ben waren Mit­te des 18. Jh.s aus Süd­west­deutsch­land dort­hin aus­ge­wan­dert und haben sich ihre Tra­di­tio­nen erhal­ten. Inzwi­schen leben fast alle jedoch in Deutsch­land oder anders­wo.
Als Sie mit 15 Jah­ren nach Deutsch­land kamen, war das ein Kul­tur­schock?
Über­haupt nicht. Mei­ne Mut­ter­spra­che war ein badi­scher Dia­lekt des 18. Jh.s, aber ich sprach auch gram­ma­ti­ka­lisch per­fek­tes Hoch­deutsch. Ich dach­te eher: ein Glück, jetzt muss ich nicht mehr Rumä­nisch spre­chen. Das war für mich eben die ers­te Fremd­spra­che, die ich nie so gut sprach wie die Rumä­nen.
Wann ent­stand Ihr Inter­es­se an der Wis­sen­schaft?
Von tech­ni­schen Errun­gen­schaf­ten und den Natur­wis­sen­schaf­ten war ich schon immer fas­zi­niert. In mei­nem Eltern­haus waren Wis­sen­schaft­ler immer hoch ange­se­hen, mein Groß­va­ter bewun­der­te etwa Otto Hahn. Es ent­sprach auch dem Lebens­ge­fühl der 60er- und 70er-Jah­re. Der ers­te Mensch betrat den Mond, es gab eine spür­ba­re tech­no­lo­gi­sche Auf­bruchs­stim­mung, so ein Gefühl, als mache die Mensch­heit im wahrs­ten Sin­ne des Wor­tes gro­ße Schrit­te. Ich war jedoch auch ande­ren Fächern nicht abge­neigt; bei­spiels­wei­se leg­te mir schon in der 8. Klas­se ein sehr ambi­tio­nier­ter Deutsch­leh­rer nahe, wegen mei­ner sehr guten Auf­sät­ze in eine huma­nis­ti­sche Rich­tung zu gehen.
War­um haben Sie sich für die Natur­wis­sen­schaft ent­schie­den?
Es war damals schon klar, dass wir Rumä­ni­en ver­las­sen müs­sen. Und die Geis­tes­wis­sen­schaf­ten atme­ten für mich immer den Geist ihrer Zeit, wäh­rend fünf plus fünf eben über­all zehn erga­ben. Mich mit den Natur­wis­sen­schaf­ten gut aus­zu­ken­nen, wür­de mir also über­all von Nut­zen sein. Als wir dann nach Lud­wigs­ha­fen am Rhein aus­ge­wan­dert waren, ent­schied ich mich auch bewusst für ein natur­wis­sen­schaft­lich ori­en­tier­tes Gym­na­si­um.
Mit der Ent­de­ckung, für die Sie den Nobel­preis erhiel­ten, haben Sie die von Ernst Abbe 1873 beschrie­be­ne und seit­her aner­kann­te Vor­stel­lung davon, wel­che Ver­grö­ße­rung mit einem Mikro­skop erreicht wer­den kann, um das 100-fache über­trof­fen. Denkt man an so einem Punkt: Jetzt ist alles mög­lich?
Gar nicht. Nicht-Wis­sen­schaft­ler unter­schät­zen meist, wie geer­det ernst­haf­te Wis­sen­schaft­ler eigent­lich sind. Die Natur nor­det einen immer wie­der ein. Streng genom­men, habe ich Abbe auch nicht wider­legt. Sei­ne Annah­men tref­fen wei­ter zu. Sie sind bloß nicht so all­ge­mein­gül­tig, wie die Leu­te dach­ten.


Wenn man solch eine Ent­de­ckung macht, denkt man dann schon: Das gibt jetzt einen Nobel­preis?
Defi­ni­tiv nicht. 1993 wuss­te ich, dass ich etwas Wich­ti­ges gefun­den hat­te. 2003 war mir klar: Das hat eine wis­sen­schafts­his­to­ri­sche Bedeu­tung. Ich bin damals vom Fass­berg hin­un­ter nach Burs­fel­de an die Weser gefah­ren und habe ein­fach ins Was­ser geguckt. Ich brauch­te die­sen Moment mit mir allein, um zu rea­li­sie­ren, dass die­se extrem hohe Auf­lö­sung auf jeden Fall kom­men wür­de – mit all ihren Fol­gen für die mensch­li­che Wei­ter­ent­wick­lung. Und zwar so sicher, wie die Weser in die Nord­see floss. Und dass ich das wohl als Ein­zi­ger wuss­te. An den Nobel­preis habe ich aber nicht gedacht. Zu Beginn glaub­te näm­lich nie­mand, dass mein Ansatz funk­tio­nie­ren kön­ne. Mei­ne Idee galt als ver­we­gen und man­chen sogar als anma­ßend. Selbst als ich 2003 MPI-Direk­tor wur­de, hör­te ich noch, dass Fach­kol­le­gen ihren Stu­den­ten davon abrie­ten, zu mir ins Labor zu kom­men, weil ich mich nur für Auf­lö­sung inter­es­sie­re, und das wäre nur mein per­sön­li­ches Hob­by. Ein Nobel­preis braucht jedoch die brei­te Aner­ken­nung der Wis­sen­schaft.
Wor­an erkann­ten Sie die wis­sen­schafts­his­to­ri­sche Dimen­si­on?
Ich hat­te eben nicht ein­fach ent­deckt, dass man die­se Gren­ze von Abbe über­tref­fen konn­te, son­dern das fun­da­men­ta­le Prin­zip dahin­ter. Und tat­säch­lich beru­hen alle der rund Dut­zend bis heu­te ent­wi­ckel­ten Hoch­auf­lö­sungs­ver­fah­ren auf die­sem Prin­zip.
Was war das Fun­da­men­ta­le an Ihrer Ent­de­ckung?
Licht ist eine Wel­le, und des­halb lässt es sich nur begrenzt fokus­sie­ren. Und die­se Gren­ze ist ein „Fleck“ mit dem Durch­mes­ser eines Fünf­tels eines tau­sends­tel Mil­li­me­ters. Was in die­sem Fleck liegt, strahlt ein­fal­len­des Licht also gleich­zei­tig zurück und erscheint durch ein Mikro­skop als ver­wa­sche­nes Gan­zes. Dar­an konn­te ich nichts ändern. Ich war jedoch der Ers­te, der sicher­stell­te, dass eben nicht mehr alle Ein­zel­tei­le in die­sem Fleck das Licht gleich­zei­tig zurück­streu­ten und sich so bemerk­bar machen. Dazu habe ich man­che von ihnen selek­tiv „aus­ge­macht“ oder „stumm­ge­schal­tet“, sodass nur noch weni­ge oder sogar nur eines zurück­strahl­ten. Man schaut sie hin­ter­ein­an­der an, und schon ist das Pro­blem gelöst. Die­ses Prin­zip lässt sich in so vie­len Vari­an­ten rea­li­sie­ren, dass ich schon 2003 sicher war, dass es nicht auf­zu­hal­ten ist.


Was pas­siert „nach“ einem Nobel­preis? Macht man dann ein­fach wei­ter?
Als der Nobel­preis 2014 ver­ge­ben wur­de, war mir klar: Die­se Gren­ze zu über­schrei­ten und die Auf­lö­sung um den Fak­tor 10 zu ver­bes­sern, war nur ein Schritt – wir kön­nen eine wei­te­re Ver­bes­se­rung um das Zehn­fa­che errei­chen. Was eine wirk­lich fun­da­men­ta­le Gren­ze war, weil wir damit die Grö­ße eines Mole­küls errei­chen wür­den. Ich habe wei­ter­ge­macht und auch die bei­den Ame­ri­ka­ner, mit denen ich mir den Preis geteilt habe, hin­ter mir gelas­sen.
Mei­ne Leu­te und ich waren zunächst die Ein­zi­gen, die die­se um das 100-fache gestei­ger­te Auf­lö­sung rou­ti­ne­mäs­sig erreich­ten. Gleich­zei­tig haben wir die bei­den 2011 gegrün­de­ten Fir­men Abberior und Abberior Instru­ments vor­an­ge­bracht. Die Paten­te an den Ver­fah­ren gehö­ren natür­lich der Max-Planck-Gesell­schaft, aber die­se Fir­men erwar­ben die Lizen­zen für den Bau der ent­spre­chen­den Mikro­sko­pe, und brach­ten die 100-mal bes­se­re Auf­lö­sung erfolg­reich auf den Markt.
Mit der Auf­lö­sung sind wir jetzt am fun­da­men­ta­len Limit ange­kom­men. Doch auch bei der genau­en Bewe­gung von Pro­te­inen in einer Zel­le sind wir mit unse­rer Tech­no­lo­gie schon wie­der wei­ter. Wir sehen Bewe­gun­gen im Inne­ren von Zel­len (ein)hundertmal schnel­ler, als das bis­her mög­lich war, und das ist für vie­le Anwen­dun­gen wich­tig. Nach­dem wir das jetzt gera­de ver­öf­fent­licht haben, zeigt sich, dass die Wis­sen­schafts-Com­mu­ni­ty es auch tat­säch­lich als wich­ti­gen Schritt ein­ord­net.
Gibt es so etwas wie eine Aura des Nobel­prei­ses, die Sie in der Öffent­lich­keit wahr­neh­men?
In mei­nem Freun­des­kreis oder wenn ich jeman­den häu­fi­ger tref­fe, gerät das in den Hin­ter­grund. Schließ­lich bin ich ein Mensch wie jeder ande­re auch mit ganz nor­ma­len zwi­schen­mensch­li­chen Bezie­hun­gen. Aber bei denen, mit denen ich nur wenig zu tun habe, ist das schon spür­bar. Aber das ist wohl nor­mal.
Wie ist es mit dem öffent­li­chen Inter­es­se an Ihnen? Kos­tet das auch Zeit, die Sie gern anders nut­zen wür­den?
Man lernt, damit umzu­ge­hen. Gera­de zu Beginn war es so, dass mich vie­le Leu­te, die mich schon kann­ten, anrie­fen, ob ich nicht zu einem Event kom­men kön­ne oder Ähn­li­ches. Da ist es oft schwer, das abzu­leh­nen, und das kann dann anstren­gend wer­den.
Ken­nen Sie ande­re Nobel­preis­trä­ger?
Sehr vie­le. Fast alle.
Ist das so eine ein­ge­schwo­re­ne Com­mu­ni­ty?
Com­mu­ni­ty wäre zu viel gesagt. Aber es gibt z. B. Ver­an­stal­tun­gen, wie etwa in Lin­dau am Boden­see, die spe­zi­fisch für Nobel­preis­trä­ger aus­ge­rich­tet wer­den, meist in Ver­bin­dung mit jün­ge­ren Wis­sen­schaft­lern. Da kom­men immer wie­der 30 – 40 Nobel­preis­trä­ger zusam­men, und man lernt sich ken­nen.
Häu­fig kennt man sich jedoch ohne­hin, weil die Top-Wis­sen­schaft­ler die­ser Welt ein­an­der eben ken­nen, auch bevor sie einen Nobel­preis bekom­men. Das war bei mir so, weil mei­ne Arbeit eben bekannt war. Auch den öster­rei­chi­schen Phy­si­ker Anton Zei­lin­ger oder den Fran­zo­sen Alain Aspect, die jetzt den Phy­sik-Nobel­preis bekom­men haben, kann­te ich schon lan­ge sehr gut. Mit Alain Aspect war ich schon öfter essen. Er ist ein Gour­met, Wein­ken­ner und fran­zö­si­scher Gen­tle­man par excel­lence.
Essen ist wich­tig. Haben Sie selbst ein Lieb­lings­ge­richt?
Kein bestimm­tes. In letz­ter Zeit bin ich auf loka­le, vege­ta­ri­sche Küche umge­stie­gen, wür­de mich aber nicht als Vege­ta­ri­er bezeich­nen. Ich weiß es ein­fach zu schät­zen, wenn etwas frisch ist und lokal pro­du­ziert wur­de.
Was essen Sie zum Früh­stück?
Nichts. Ich trin­ke nur Kaf­fee und koche mir meist erst mit­tags selbst etwas. Nur an den Wochen­en­den früh­stü­cke ich mit der Fami­lie.
Wie trin­ken Sie Ihren Kaf­fee? Schwarz?
Ja. Schwarz. Ich mache ihn selbst in einer Maschi­ne, wo ich so eine Art Espres­so stop­fe. Ein ehe­ma­li­ger Kol­le­ge am Insti­tut bringt mir gele­gent­lich mei­nen Lieb­lings­kaf­fee aus Indi­en mit.
Man merkt Ihnen an, wie eng Sie mit Ihrer Arbeit ver­bun­den sind. Erle­ben Sie auch Aus­zei­ten?
Unbe­dingt. Ges­tern habe ich z. B. mit mei­nem sie­ben­jäh­ri­gen Sohn im Gar­ten Fuß­ball gespielt. Er will Tor­wart wer­den. Also bal­le­re ich ihm die Bäl­le ins Tor, manch­mal zwei Stun­den lang. Ab und zu gehe ich mit ihm zu einem Bun­des­li­ga­spiel. Mit einem ande­ren mei­ner Söh­ne lau­fe ich im Göt­tin­ger Stadt­wald oft zwölf Kilo­me­ter, manch­mal zwei­mal die Woche – in sol­chen Momen­ten spielt der Beruf über­haupt kei­ne Rol­le.


Aktu­ell sind vie­le Men­schen in Sor­ge über die Zukunft. Neh­men Sie das wahr?
Ich habe eine Frau und vier Kin­der, mit denen ich sehr viel Zeit ver­brin­ge. Schon des­halb beob­ach­te ich, was in der Welt pas­siert, und sehe vie­les auch mit Sor­ge.
Wer­den Sie als Nobel­preis­trä­ger nach Lösun­gen gefragt?
Das gibt es schon, dass die Leu­te nach Ori­en­tie­rung suchen und fra­gen, was ich den­ke. Aber das heißt natür­lich nicht, dass ich bes­se­re Ant­wor­ten hät­te.
Wis­sen­schaft scheint spä­tes­tens seit Coro­na eine wach­sen­de Bedeu­tung für das gesell­schaft­li­che Leben zu besit­zen. Was den­ken Sie dar­über?
Es ist den meis­ten Men­schen nicht ganz klar, aber es gibt nichts, was die Mensch­heits­ent­wick­lung so mas­siv ver­än­dert wie die Wis­sen­schaft. Unse­re tra­di­tio­nel­le Bil­dungs­per­spek­ti­ve lässt uns Geschich­te vor allem als Abfol­ge von Regie­run­gen und Herr­schern sehen. Wir glau­ben, dass Men­schen wie Napo­le­on, Bis­marck, Ade­nau­er, Kohl oder Ange­la Mer­kel die Geschich­te schrei­ben.
In mei­nen Augen sind sie eher Ver­wal­ter der Mög­lich­kei­ten ihrer Zeit. Die mas­si­ven Ein­schnit­te in der Mensch­heits­ent­wick­lung wer­den aber von Wis­sen­schaft­lern gemacht. Das mag jetzt ein bis­sen anma­ßend klin­gen. Aber bevor Che­mi­ker bei­spiels­wei­se den Kunst­dün­ger ent­deck­ten, haben die Leu­te immer wie­der gehun­gert oder sich wegen des Essens gegen­sei­tig tot­ge­schla­gen. Krie­ge wer­den heu­te aus ande­ren Grün­den geführt.
Eben­so fun­da­men­ta­le Ent­de­ckun­gen waren der elek­tri­sche Strom oder das Flug­zeug, durch die wir jetzt glo­bal ver­netzt sind. Es gab eine Zeit vor dem Flie­gen, und es gab eine Zeit danach; eine Zeit vor und nach dem elek­tri­schen Strom; vor und nach dem Inter­net. Das sind die wirk­li­chen his­to­ri­schen Ein­schnit­te. Unter den Poli­ti­kern die­ser Welt hat das aus mei­ner Sicht – und nicht nur aus mei­ner – der chi­ne­si­sche Staats­chef Xi Jin­ping wohl am meis­ten ver­in­ner­licht.
Ich will ihn nicht bewer­ten. Aber er und sei­ne Leu­te set­zen mas­siv und stra­te­gisch auf tech­no­lo­gi­sche Ent­wick­lun­gen, weil sie wis­sen, dass das wirk­lich das ist, was die Geschi­cke die­ser Welt ver­än­dert. Im Unter­schied dazu sieht man die Wis­sen­schaft in Euro­pa eher als einen von vie­len The­men­be­rei­chen. Man glaubt, man könn­te ihr genau­so viel oder wenig Beach­tung schen­ken wie der Land­wirt­schaft oder dem Kul­tur­we­sen. Hier wird es ein Erwa­chen geben.

Macht man sich da als Wis­sen­schaft­ler Sor­gen, weil Chi­na alles ande­re als eine Demo­kra­tie ist?
Ich wür­de mir wün­schen, dass man Chi­na selbst, eben­so wie die Wis­sen­schaft und die Wirt­schaft in Chi­na, erst ein­mal unideo­lo­gisch betrach­tet und sich ein­fach nur anschaut, wie dort mit Natur­wis­sen­schaf­ten und Tech­nik umge­gan­gen wird. Da wür­de man sicher viel ler­nen.
Was wol­len wir anders machen als Chi­na? Auch dort wach­sen die Bäu­me nicht in den Him­mel. Aber war­um hat Chi­na es geschafft, sich inner­halb von 25 Jah­ren von fürch­ter­li­cher Armut und Hun­ger zu einem deut­lich höhe­ren mate­ri­el­len Wohl­stand zu ent­wi­ckeln? Das hat es in der Geschich­te so noch nie gege­ben.
War­um sind ande­re Län­der, wie bei­spiels­wei­se Russ­land, nicht so erfolg­reich? Was ist in Ost­eu­ro­pa gut und schlecht gelau­fen? Aus einer ideo­lo­gie­fer­nen Ana­ly­se der Fak­ten wür­de man enorm viel ler­nen. Eine – auch öffent­li­che – Dis­kus­si­on dar­über ver­mis­se ich.
Man wür­de ver­mu­ten, dass sich zumin­dest Insti­tu­tio­nen wie „Thinktanks“ mit die­sen The­men beschäf­ti­gen, oder?
Das ist rich­tig. Doch vie­le wer­den von der Öffent­lich­keit finan­ziert und kön­nen unbe­que­me Wahr­hei­ten nur begrenzt äußern. Vie­le Men­schen in unse­ren libe­ra­len Demo­kra­tien haben Umfra­gen zufol­ge das Gefühl, nicht alles sagen zu kön­nen. Ob das stimmt oder nicht sei dahin­ge­stellt. Dass es die­ses Gefühl gibt, kann man aber nicht weg­dis­ku­tie­ren.
Ich den­ke, dass wir schon die Mög­lich­keit haben, nicht-ver­fas­sungs­feind­li­che Mei­nun­gen frei zu äußern.
Da stim­me ich Ihnen zu. Gleich­zei­tig gibt es aber Tabus, zu denen Leu­te ihre Mei­nung eben nicht äußern, weil ihnen dar­aus Nach­tei­le erwach­sen, auch wenn die Mei­nung ohne Wenn und Aber ver­fas­sungs­kon­form ist.
Viel­leicht glau­ben das vie­le Men­schen ein­fach des­halb, weil es ihnen immer wie­der laut genug zuge­ru­fen wird?
Nein. Ich glau­be, in jeder Zeit­pha­se gibt es einen Zeit­geist und damit Tabus.
Wel­che zum Bei­spiel?
Das liegt in der Natur der Tabus, dass man sie nicht anspre­chen darf. Man kann sie aber iden­ti­fi­zie­ren, indem man schaut, was in einer Gesell­schaft als abso­lut posi­tiv gilt. Was wird glo­ri­fi­ziert? Da wird man immer etwas fin­den. Doch etwas Abso­lu­tes gibt es eben nicht – und in der Umkeh­rung kann man die Tabus fest­ma­chen. Denn jede ‚posi­ti­ve‘ Sache hat auch ‚nega­ti­ve‘ Sei­ten. Rei­ne Schwarz-Weiß-Male­rei kann der Viel­sei­tig­keit und Kom­ple­xi­tät die­ser Welt nicht gerecht wer­den. Das war frü­her schon so und ist heu­te nicht anders. Des­we­gen haben Tabus auch nur eine begrenz­te Lebens­dau­er.
Was den Ein­fluss wis­sen­schaft­li­cher Ent­de­ckun­gen angeht – fol­gen die heu­te immer schnel­ler auf­ein­an­der?
Die Zahl der for­schen­den Wis­sen­schaft­ler ist heu­te grö­ßer als jemals zuvor in der Mensch­heits­ge­schich­te. Das führt zu immer schnel­le­ren Ent­wick­lun­gen. Ich bin kein „Wis­sen­schafts­idea­list“.
Aber es liegt in der Natur des Men­schen, Pro­ble­me lösen zu wol­len. Ob es um Krebs, Hun­ger oder das Kli­ma geht, ob aus Lei­dens­druck oder dem grund­sätz­li­chen Wunsch nach Ver­bes­se­rung. Men­schen wer­den immer nach Ver­bes­se­run­gen suchen. Wenn wir in die­sem Land also kei­ne Wis­sen­schaft wol­len oder sie über­re­gle­men­tie­ren, dann wer­den die Ver­bes­se­run­gen eben anders­wo gemacht. Doch auch die Leu­te bei uns wer­den dann die­se Ver­bes­se­run­gen haben wol­len. Das führt poten­ti­ell zu Abhän­gig­kei­ten von ande­ren und viel­leicht auch zu inter­nen Span­nun­gen
Wird die Wis­sen­schaft in den nächs­ten Jah­ren Lösun­gen für die gro­ßen Her­aus­for­de­run­gen unse­rer Zeit fin­den?
Viel­leicht viel schnel­ler, als wir erwar­ten. Die Lösun­gen kom­men nach mei­ner Erfah­rung dabei oft aus einer uner­war­te­ten Rich­tung. Noch vor 15 bis 20 Jah­ren hieß es, das Edi­tie­ren von Geno­men sei so kom­plex, dass es ewig dau­ern wür­de, bis man das machen kön­ne. Dann kam die CRIS­PR/­CAS-Metho­de, und heu­te kann das fast jeder Prak­ti­kant. Damit hat­te nie­mand gerech­net, es war eine pure Zufalls-Ent­de­ckung.
Aber Wis­sen­schaft­ler, die an der Gren­ze der Erkennt­nis arbei­ten, wis­sen, dass immer irgend­was kom­men kann, womit man nicht rech­net. Gleich­zei­tig wis­sen sie, dass sie sich nicht irgend­wel­chen Illu­sio­nen hin­ge­ben dür­fen, dass es z. B. nur das gibt, was man gera­de so vor der Nase hat. Wis­sen­schaft­ler sind ergeb­nis­of­fe­ne Men­schen.
Wenn man Ihnen zuhört, hat man das Gefühl, dass Sie ein frei­er Mann sind?
Ja, viel­leicht. Ich neh­me mir schon die Frei­heit zu sagen, was ich den­ke. Und ich schät­ze es sehr, in einem frei­en Land zu leben.

Ste­fan Wal­ter Hell (59)
Gebo­ren wur­de Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Ste­fan Wal­ter Hell am 23.12.1962 in Arad, in der Volks­re­pu­blik Rumä­ni­en, in einer Gemein­de deutsch­stäm­mi­ger Bana­ter Schwa­ben. Der Direk­tor am MPI für mul­ti­dis­zi­pli­nä­re Natur­wis­sen­schaf­ten in Göt­tin­gen erhielt im Ver­lauf sei­ner Kar­rie­re neben zahl­rei­chen ande­ren Aus­zeich­nun­gen zu-sam­men mit den ame­ri­ka­ni­schen For­schern Eric Bet­zig und Wil­liam Moer­ner 2014 den Nobel­preis für Che­mie. Die­ser wur­de ihm für die hoch­auf­lö­sen­de opti­sche STED-Mikro­sko­pe ver­lie­hen. Die STED (Sti­mu­la­ted Emis­si­on Depletion)-Technologe ermög­licht Abbil­dun­gen in einer Auf­lö­sung, die nicht mehr von der Beu­gungs­gren­ze des Lichts beschränkt wird. Er lebt in Göt­tin­gen mit sei­ner Frau und vier Kin­dern.