Im Cha­rak­ter-Inter­view gehen Prof. Dr. med. Jens Wilt­fang, PD Dr. rer. nat. Clau­dia Bartels und PD Dr. Niels Han­sen auf die Bedeu­tung neu ent­wi­ckel­ter Alz­hei­mer-The­ra­pien ein, die nicht mehr nur Sym­pto­me lin­dern, son­dern in Aus­sicht stel­len den Krank­heits­ver­lauf zu brem­sen.

Inter­view: Ulrich Drees | Fotos: UMG, Ado­be Stock

Herr Prof. Wilt­fang, wür­den Sie kurz den bis­he­ri­gen Stand der Behand­lungs­mög­lich­kei­ten bei Alz­hei­mer-Demenz erläu­tern?
Bis vor Kur­zem gab es nur drei medi­ka­men­tö­se The­ra­pien, mit denen wir die Sym­pto­me einer Alz­hei­mer-Demenz min­dern. Sie alle beein­flus­sen den Ver­lauf der Krank­heit nicht nen­nens­wert, son­dern mil­dern nur die damit ein­her­ge­hen­den Sym­pto­me. Das sind zum einen die Ace­tyl­cho­li­ne­s­ter­ase-Hem­mer, die den nor­ma­ler­wei­se raschen Abbau des Neu­ro­trans­mit­ters Ace­tyl­cho­lin – zustän­dig für unse­re geis­ti­ge Leis­tungs­fä­hig­keit – ver­lang­sa­men. Ein zwei­tes Medi­ka­ment zur Behand­lung einer fort­ge­schrit­te­nen Alz­hei­mer-Demenz ver­hin­dert, dass über einen Ant­ago­nis­mus am N-Methyl-D-Aspar­tat-Rezep­tor im Gehirn das Glut­amat eine neu­ro­to­xi­sche Wir­kung ent­fal­ten kann. Drit­tens bie­tet der pflanz­li­che Wirk­stoff Gink­go eine The­ra­pie­mög­lich­keit, deren Wir­kung wis­sen­schaft­lich jedoch noch nicht aus­rei­chend erforscht ist.

Wel­che Bedeu­tung hat die Alz­hei­mer-Demenz als Erkran­kung?
Jede zwei­te Demenz­er­kran­kung – und wir unter­schei­den mehr als 70 Vari­an­ten – ist eine Alz­hei­mer-Demenz oder eine ihrer Misch­for­men. Nun liegt die geschätz­te mitt­le­re Lebens­er­war­tung in Deutsch­land heu­te bei fast 90 Lebens­jah­ren, und jeder drit­te Mensch erkrankt mit 90 Jah­ren an einer Demenz. Das heißt, das von zehn neu­ge­bo­re­nen KIn­dern ein bis zwei vor­aus­sicht­lich an einer Alz­hei­mer-Demenz erkran­ken wer­den. Eine wirk­sa­me Alz­hei­mer-The­ra­pie ist also extrem wich­tig.

Und nun gibt es Fort­schrit­te?
Es gibt einen Hoff­nungs­schim­mer, der auf den Ergeb­nis­sen einer For­schungs­grup­pe in der Schweiz beruht. Die­se ent­deck­te bei hoch­be­tag­ten Men­schen, die trotz Risi­ko­fak­to­ren für Alz­hei­mer geis­tig völ­lig frisch geblie­ben waren, einen Anti­kör­per namens Adu­ca­nu­mab. Die­ser Anti­kör­per band an agg­re­gier­te For­men des Amy­lo­id-Beta Pro­te­in an, das wesent­lich für die Patho­ge­ne­se der Alz­hei­mer-Krank­heit ist, so dass die­se anschlie­ßend von den „Poli­zei­zel­len“ des Gehirns, den Glia­zel­len, besei­tigt wer­den konn­ten. Um sei­ne Wir­kung für Alz­hei­mer-Erkrank­te zu nut­zen, wur­de die­ser Anti­kör­per dann iso­liert und bio­tech­no­lo­gisch her­ge­stellt.

Das klingt wie ein Durch­bruch …
Natür­lich muss­ten vor einer Zulas­sung die­ses Anti­kör­pers umfas­sen­de Stu­di­en durch­ge­führt wer­den – im Fal­le von Adu­ca­nu­mab waren es zwei groß ange­leg­te Stu­di­en. Da das Medi­ka­ment die nöti­gen Bedin­gun­gen für eine Zulas­sung jedoch nur in einer die­ser Stu­di­en erfüll­te, erteil­te die ame­ri­ka­ni­sche Gesund­heits­be­hör­de Adu­ca­nu­mab nur unter der Bedin­gung einer drit­ten welt­wei­ten Stu­die die Zulas­sung. An die­ser Stu­die, deren Ergeb­nis­se über die Zukunft des Medi­ka­ments ent­schei­den wer­den, neh­men auch wir als Kli­nik für Psych­ia­trie und Psy­cho­the­ra­pie der Uni­ver­si­täts­me­di­zin Göt­tin­gen teil.

Wur­den auf der Basis der erfolg­rei­chen For­schun­gen in der Schweiz auch wei­te­re Ansät­ze ver­folgt?
Ja, ein zwei­ter Anti­kör­per „Leca­ne­mab“ erwies sich als „Mus­ter­kna­be“ und erfüll­te alle pri­mä­ren und sekun­dä­ren Ziel­kri­te­ri­en einer welt­weit ange­leg­ten Stu­die. In den USA ist er bereits zuge­las­sen, in Euro­pa dürf­te das noch in die­sem Jahr fol­gen, und für Deutsch­land erwar­te ich eine Zulas­sung für April oder Mai 2024. Dann gäbe es auch in Deutsch­land eine ers­te zuge­las­se­ne Anti­kör­per-The­ra­pie gegen die Alz­hei­mer-Demenz.
Mit „Dona­ne­mab“ gibt es dar­über hin­aus noch eine drit­te, sehr viel­ver­spre­chen­de Anti­kör­per-The­ra­pie. Eine Zulas­sung in den USA und Euro­pa ist wahr­schein­lich und mei­ner Ein­schät­zung nach in Deutsch­land für Ende 2024 zu erwar­ten.

Wie wer­den die­se Medi­ka­men­te dann prak­tisch ein­ge­setzt?
In Form regel­mä­ßi­ger Infu­sio­nen – im Fal­le von Leca­ne­mab bei­spiels­wei­se alle 14 Tage. Auch sub­ku­ta­ne Appli­ka­tio­nen schei­nen prin­zi­pi­ell zukünf­tig mög­lich zu sein. Um die­se Behand­lun­gen so gut wie mög­lich zu nut­zen, soll­ten sie mög­lichst früh ein­set­zen. Das bedeu­tet: Wir brau­chen eine mög­lichst effek­ti­ve Früh­dia­gnos­tik. Momen­tan ist es jedoch so, dass die patho­lo­gi­sche „Lawi­ne“ die­ser Erkran­kung zu dem Zeit­punkt, zu dem wir sie kli­nisch nach­wei­sen kön­nen, den Hirn­kor­tex Betrof­fe­ner bereits mit vol­ler Wucht erreicht hat. Die­ser Pro­zess – und das wis­sen wir sicher – beginnt jedoch bereits min­des­tens 15 Jah­re frü­her. Dann bemer­ken Betrof­fe­ne bereits ers­te Ein­schrän­kun­gen, z. B. der Merk­fä­hig­keit, oder Wort­fin­dungs­stö­run­gen, die wir sub­jek­ti­ves kogni­ti­ves Defi­zit nen­nen. Auch die nächs­te Stu­fe, die leich­te kogni­ti­ve Stö­rung, bei der Erkrank­te ihren All­tag noch bewäl­ti­gen kön­nen, setzt bereits ca. 5-10 Jah­re vor der eigent­li­chen Demenz ein. Kli­ni­sche Tests erge­ben in den ers­ten bei­den Pha­sen noch kei­nen bzw. einen nur leicht auf­fäl­li­gen Befund. Doch über eine Unter­su­chung des Hirn­was­sers – und zukünf­tig auch durch einen deut­lich ein­fa­che­ren Blut­test – kön­nen wir spä­tes­tens die Alz­hei­mer-Vor­stu­fe der leich­ten, kogni­ti­ven Stö­rung mit 90-pro­zen­ti­ger Sicher­heit dia­gnos­ti­zie­ren, sodass wir den Ver­lauf der Erkran­kung bereits lan­ge vor dem Aus­bruch der eigent­li­chen Demenz ent­schei­dend brem­sen könn­ten. Dar­aus ergibt sich, dass auch ein Aus­bau der Alz­hei­mer-Dia­gnos­tik wich­tig wer­den wird.

Was ist über Neben­wir­kun­gen bekannt?
Grund­sätz­lich gilt in der Schul­me­di­zin, dass etwas, das wirkt, auch Neben­wir­kun­gen hat – und je stär­ker die Wir­kung, des­to stär­ker die Neben­wir­kun­gen. Im Kon­text die­ser Anti­kör­per-The­ra­pien wur­den Hirn­öde­me und Hirn­blu­tun­gen beob­ach­tet, die aber bei der Mehr­zahl der Pati­en­ten kei­ne oder nur leich­te Sym­pto­me her­vor­ru­fen und im Ver­lauf rück­läu­fig sind.
Des­halb wird die Ein­füh­rung die­ser The­ra­pien auch durch eine Sicher­heits­bild­ge­bung mit­tels einer regel­mä­ßi­gen Kern­spin­to­mo­gra­phie beglei­tet wer­den müs­sen – ins­be­son­de­re bei Pati­en­ten mit bekann­ten Risi­ko­fak­to­ren.

Wie sind die Reak­tio­nen in der Fach­welt?
Hier gibt es gro­ße Unter­schie­de. Zum einen wer­den die Neben­wir­kun­gen dis­ku­tiert, wobei von den Kri­ti­kern der The­ra­pie gele­gent­lich Ein­zel­fäl­le unse­ri­ös über­be­wer­tet wer­den, wobei auch die Befür­wor­ter manch­mal ein­zel­ne Erfol­ge zu sehr beto­nen. Auch die hohen Kos­ten der Behand­lung im Ver­hält­nis zu den Ergeb­nis­sen wer­den dis­ku­tiert. Nicht zuletzt spielt ein prin­zi­pi­el­les Miss­trau­en gegen­über den kom­mer­zi­el­len Inter­es­sen der Phar­ma­in­dus­trie eine Rol­le. Aus mei­ner Sicht bil­den die­se neu­en Behand­lungs­mög­lich­kei­ten für die Alz­hei­mer­be­hand­lung jedoch eine wirk­lich viel­ver­spre­chen­de Per­spek­ti­ve. Natür­lich wird es Nach­fol­ge­stu­di­en geben müs­sen, um genau­er zu ermit­teln, bei wel­chen Pati­en­ten die auf­wen­di­ge Behand­lung Sinn macht, aber grund­sätz­lich begrü­ße ich die­se neu­en Ergeb­nis­se.

Frau Dr. Bartels, wie bewer­ten Sie die Ent­wick­lung?
Mit die­sen neu­en Anti­kör­per-The­ra­pien haben wir end­lich eine Mög­lich­keit, bereits im frü­hen Sta­di­um einer Alz­hei­mer-Erkran­kung Medi­ka­men­te zu ver­ord­nen, die den Ver­lauf der Krank­heit und nicht nur ihre Sym­pto­me ver­än­dern. Bemer­kens­wert ist auch, dass die letz­te Ent­wick­lung eines Alz­hei­mer-Medi­ka­ments nun 15 Jah­re zurück­liegt. Seit­her hat die Phar­ma­in­dus­trie zwar Mil­li­ar­den in For­schungs­pro­jek­te inves­tiert, jedoch kei­ne Erfol­ge erzielt. Eini­ge Kon­zer­ne haben sich bereits aus die­sem Gebiet zurück­ge­zo­gen. Die aktu­el­le Ent­wick­lung führt jedoch erkenn­bar zu neu­en Inves­ti­tio­nen. Gleich­wohl geht es bei den neu­en The­ra­pien nicht dar­um, dass der Haus­arzt ein­fach ein Medi­ka­ment ver­schreibt, das sich die Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten von der Apo­the­ke holen und ein­neh­men. Die Behand­lung wird ärzt­lich eng betreut erfol­gen müs­sen. Es braucht ent­spre­chen­de Struk­tu­ren für die Dia­gnos­tik, Infu­si­ons­plät­ze und neben der Kern­spin­to­mo­gra­fie zur Über­wa­chung der Neben­wir­kun­gen auch eine kli­ni­sche Kon­trol­le zur Wir­kung und ande­ren Neben­wir­kun­gen

Herr Dr. Han­sen, wie bewer­ten Sie als kli­ni­scher Lei­ter der Gedächt­nis­am­bu­lanz das The­ma Neben­wir­kun­gen? Schreckt das Pati­en­tin­nen oder Pati­en­ten ab, die jetzt z. B. an der Adu­ca­nu­mab-Stu­die teil­neh­men?
Nach der­zei­ti­gem Kennt­nis­stand gibt es zwi­schen den ver­schie­de­nen Anti­kör­per-The­ra­pien auch beim Auf­tre­ten von Neben­wir­kun­gen Unter­schie­de, sodass ver­mut­lich dif­fe­ren­ziert von Fall zu Fall abge­wo­gen wer­den kann, wo der Ein­satz wel­chen Medi­ka­men­tes sinn­voll ist. Erwäh­nens­wert ist auch, dass die beob­ach­te­ten Neben­wir­kun­gen – Hirn­blu­tun­gen und Öde­me – sich häu­fig von allein zurück­bil­den, also kei­ne kon­kre­ten Sym­pto­me her­vor­ru­fen und nur im Moni­to­ring auf­fal­len. Selbst­ver­ständ­lich ist eine gute Auf­klä­rung über alle Risi­ken unver­zicht­bar. Ange­sichts der Aus­wir­kun­gen einer Alz­hei­mer-Demenz ent­schei­den sich unse­rer Erfah­rung nach trotz­dem die aller­meis­ten Stu­di­en­teil­neh­me­rin­nen und -teil­neh­mer dafür, die­se Risi­ken ein­zu­ge­hen.

Die Alz­hei­mer-Demenz
Die­se auch „Mor­bus Alz­hei­mer“ genann­te Erkran­kung des Gehirns ist die häu­figs­te Form der Demenz. Benannt wur­de sie nach Dr. Alo­is Alz­hei­mer, einem deut­schen Psych­ia­ter und Neu­ro­pa­tho­lo­gen, der 1906 erst­mals ihre Sym­pto­me beschrieb.
Die Alz­hei­mer-Demenz führt durch das Abster­ben von Ner­ven­zel­len im Gehirn zu zuneh­men­der Ver­gess­lich­keit und Ori­en­tie­rungs­lo­sig­keit. Betrof­fe­ne lei­den unter Ver­hal­tens­ver­än­de­run­gen, wer­den unru­hig, depres­siv oder aggres­siv. Urteils­ver­mö­gen und Sprach­fä­hig­keit las­sen nach. Da das Risi­ko einer Erkran­kung vor allem mit zuneh­men­dem Alter steigt – nur in weni­ger als einem Pro­zent aller Fäl­le wird Alz­hei­mer gene­tisch ver­erbt –, stellt die Alz­hei­mer-Demenz für eine immer älter wer­den­de Gesell­schaft eine rie­si­ge Her­aus­for­de­rung dar.
Die Ursa­chen der Erkran­kung sind noch nicht end­gül­tig erforscht, klar ist jedoch, dass zwei For­men von Eiweiß­ab­la­ge­run­gen im Gehirn eine wich­ti­ge Rol­le spie­len: Plaques aus Beta-Amy­lo­id und Fibril­len aus Tau.

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Prof. Dr. med. Jens Wilt­fang
Direk­tor der Kli­nik für Psych­ia­trie und Psy­cho­the­ra­pie an der Uni­ver­si­täts­me­di­zin Göt­tin­gen, kli­ni­scher Stand­ort­spre­cher des Deut­schen Zen­trums für Neu­ro­de­ge­nera­ti­ve Erkran­kun­gen, Göt­tin­gen (DZNE-Gö)

PD Dr. rer. nat. Clau­dia Bartels
lei­ten­de Psy­cho­lo­gin und Ver­wal­tungs­pro­fes­so­rin, Medi­zi­ni­sche Psy­cho­lo­gie und Medi­zi­ni­sche Sozio­lo­gie

PD Dr. Niels Han­sen
kli­ni­scher Lei­ter der Gedächt­nis­am­bu­lanz

Uni­ver­si­täts­me­di­zin Göt­tin­gen
Kli­nik für Psych­ia­trie und Psy­cho­the­ra­pie
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