Wie überall wird auch in Göttingen viel von Klimaschutz und Nachhaltigkeit gesprochen, doch folgen den schönen Worten auch Taten? Im Charakter-Interview erklären die Göttinger Oberbürgermeisterin Petra Broistedt und die Leiterin des Referats für nachhaltige Stadtentwicklung Dinah Epperlein, was die Stadt gerade konkret unternimmt.
Interview: Ulrich Drees | Fotos: mehle – hundertmark – fotografie, Ulrich Drees
Frau Broistedt, auf dem letztjährigen Wirtschaftsempfang betonten Sie eindrücklich die Bedeutung von Klimaschutz und Nachhaltigkeit für die Zukunft Göttingens. Doch wie weit ist Göttingen in Sachen Klimaschutz ganz konkret?
Mit dem Klimaplan 2030 und der Vielzahl aktueller Leitprojekte und Maßnahmen in seinen sieben Handlungsfeldern sind wir schon verdammt weit. Weiter als viele Städte unserer Größenordnung und auch weiter als größere Städte. Natürlich wird immer wieder gefordert, mehr zu tun. Ich werde z. B. gefragt, warum nur 13 Menschen spezifisch am Klimaschutzreferat arbeiten und nicht 50 bis 100. Und ja, der Klimaplan ist sehr ambitioniert. Wir werden ihn bis 2030 so nicht umgesetzt haben. Aber wir wollen seine Ziele trotzdem so schnell wie möglich erreichen – und wir werden 2030 auf diesem Weg auch sehr weit gekommen sein.
Was bedeutet das praktisch?
In diesem Jahr wird die Stadt 12,7 Mio. Euro für den Klimaschutz ausgeben, zwei Drittel direkt für den Klimaschutz, ein Drittel für die Klimaanpassung. Darin enthalten sind 5 Millionen Euro aus Fördermitteln. Dazu kommen noch die Mittel, die von den städtischen Tochtergesellschaften, zum Beispiel der Göttinger Wohnungsgenossenschaft mit ihrer energetischen Sanierung, den Verkehrsbetrieben, die auf E-Mobilität umstellen, und den Stadtwerken mit ihren Initiativen für Fernwärme und erneuerbare Energien investiert werden. Insgesamt sprechen wir da über gewaltige Beträge: In diesem und im nächsten Jahr wollen wir fast 60 Millionen Euro dafür bereitstellen
Wofür wird das Geld ausgegeben, beispielsweise im Bereich Verkehr?
Wir haben in Göttingen eine Verkehrswende eingeleitet, die beispielsweise einen Radverkehrsentwicklungsplan beinhaltet, der die 36 Prozent Fahrradnutzung auf Alltagswegen in Göttingen noch erhöhen soll. Dazu gehören mehr Radwege, Fahrradparkplätze und eine Image-Kampagne fürs Rad. Als erste Stadt in Deutschland setzen wir so etwas konsequent von oben nach unten um. Bereits jetzt sind dafür jährlich 2 Millionen Euro im Haushalt angesetzt, zu denen noch zusätzliche Mittel für weitere Maßnahmen hinzukommen. Im aktuellen Doppelhaushalt sind es insgesamt 7,5 Millionen Euro für den Radverkehr – aus meiner Sicht eine echte Hausnummer.
Was ist mit dem Bereich des öffentlichen Personennahverkehrs?
Hier setzen wir darauf, dass die Einführung des Deutschlandtickets Wirkung zeigt. Ich hätte mir zwar 29 Euro als Preis gewünscht, aber das Ticket muss finanzierbar sein. Insgesamt muss der ÖPNV überall schneller, besser, günstiger und elektrisch werden. Konkret fahren bereits 30 Prozent unserer Busse elektrisch. Das ist Platz 2 in Niedersachsen. Um den noch zu steigern, bauen wir einen neuen Busbetriebshof mit E-Lade-Möglichkeiten auf dem Schützenplatz und danach einen weiteren in der Gustav-Bielefeld-Straße. Die Entscheidungen dafür sind getroffen. Die Umsetzung beginnt. Wir werden hier 80 bis 90 Millionen Euro investieren, mit den zu erwartenden Baupreissteigerungen vermutlich noch mehr.
Was das Verbindungsnetz angeht, haben wir inzwischen 10 Nachtbuslinien etabliert, und noch in diesem Jahr wird es App-basierte „on demand“-Angebote in Grone und den westlichen Dörfern geben, also Busse auf Abruf. Wir werden das mit jährlich gut 600.000 Euro fördern. Im April startet außerdem für rund 150.000 Euro jährlich die Anbindung des Gewerbegebiets hinter dem Siekanger, wo die großen Logistikhallen liegen, an das Liniennetz. Damit wollen wir den Umstieg vom Auto auf den ÖPNV für die dort Arbeitenden unterstützen.
Neben dem Ausbau des Verbindungsnetzes arbeiten wir außerdem in diesem Moment daran, die Taktung auf den großen Nord-Süd-Achsen im Stadtgebiet von 15 und 30 Minuten auf 10 Minuten zu verringern, was mindestens 2 Mio. Euro jährlich kosten wird.
Petra Broistedt, Dinah Epperlein
Warum ist der ÖPNV nicht ganz kostenlos? Kürzlich sprach der Niedersächsische Verkehrsminister Olaf Lies von einem „Angebotsproblem“. Würde sich das durch einen freien ÖPNV nicht umgehen lassen?
Broistedt: Wir sprechen in Göttingen oft darüber, was der ÖPNV kosten soll. Das Luftlinienticket und die Bürgerkarte E für Menschen, die Transferleistungen erhalten, sind Ergebnisse dieser Gespräche. Doch die Finanzkraft der Stadt ist trotz der aktuell sehr guten Haushaltslage nun einmal endlich. Aktuell bezuschussen wir den ÖPNV mit jährlich 22 Millionen Euro. Für einen kostenfreien ÖPNV würde sich die Summe sicher im oberen zweistelligen Millionen-Bereich bewegen.
Epperlein: Hinzu kommt, dass der Nutzen ausbleibt. Aus anderen Städten und Kommunen wissen wir, dass die Nutzung des ÖPNV nicht nennenswert ansteigt, wenn er kostenfrei ist. Was zählt, ist das Gesamtangebot: Busse brauchen ihre eigenen Spuren, Vorfahrt und eine schnelle Taktung. Gleichzeitig müssen Parkplätze schwerer zu finden und teurer sein. Wenn es bequemer wird, mit dem Bus als mit dem Auto zu fahren, darf die Busfahrt auch etwas kosten. Das ist das Angebot, das sich durchsetzen wird.
Welche Zukunft hat der private Personennahverkehr? Werden wir alle auf Bus oder Fahrrad umsteigen müssen?
Wir wollen das Auto nicht verbieten. Aber wer es nutzen will, wird die Verkehrswende künftig stärker mitfinanzieren müssen. Deshalb haben wir jetzt höhere Parkgebühren beschlossen. Auf die Dauer sollen zwei Stunden parken in der Innenstadt dasselbe kosten wie ein Hin-und-zurück-Busticket. Auch das Anwohnerparken wird teurer und am Ende bis auf 180 Euro jährlich steigen.
Sprechen wir über Energie und Klimaschutz. Wie ist die Situation in diesem Bereich?
Bei jeder passenden Gelegenheit setzen wir eine energetische Sanierung um. Neubauten werden nur noch mit höchsten energetischen Standards realisiert. Darüber hinaus bauen wir das Fernwärmenetz in alle(n) Richtungen immer weiter aus.
Auch im Privatsektor fördern wir diesen Wandel, etwa in Form von Photovoltaikanlagen auf Dächern und Balkonen. Im vergangenen Jahr haben wir in unserem Klimafond dafür eine Fördersumme von 225.000 Euro veranschlagt und am Ende fast eine halbe Million Euro ausgegeben. Für dieses Jahr sind 450.000 Euro angemeldet und dann für die nächsten Jahre 685.000 Euro.
Wie läuft die Umsetzung dieser Förderung? In der Tagespresse gab es in der Vergangenheit Berichte über Beispiele bezüglich privater Photovoltaik auf dem Dach bzw. Balkon, die eher den Eindruck erweckten, als würde die Stadt hier private Initiative erschweren?
Epperlein: Das sind echte Ausnahmefälle. Es gibt, wie z. B. im Ostviertel, baurechtliche Regeln, die gesetzlich verpflichtend sind. Die Hausbesitzer müssen sich da beraten lassen und brauchen eine Genehmigung, was dann als Hürde empfunden wird. Unsere Kolleginnen und Kollegen im Bereich Bauordnung sind aber mittlerweile so geschult, dass sie stets Lösungsvorschläge anbieten können. Auch wenn sie nicht immer zu 100 Prozent den Vorstellungen des Bauherrn entsprechen, sind es Lösungen, und ich habe dazu schon viele positive Rückmeldungen erhalten. Leider sind es dann aber die schmerzlichen Einzelfälle, die hängen bleiben und hochgekocht werden.
Broistedt: Wenn die Stadt hier ständig etwas verhindern würde, dann wäre der Klimafond ganz sicher nicht so ein Erfolg. Im Gegenteil: Wir puschen hier richtig.
Epperlein: Ohnehin sind Solaranlagen im Normalfall genehmigungsfrei. Das ist nur bei Denkmalschutz oder entsprechenden Bausatzungen anders.
Das Beispiel Groner Tor beweist: Der Weg in die grüne Zukunft ist steinig.
Apropos Denkmalschutz – viele Menschen fragen sich, warum die Dächer geschützter Gebäude nicht generell für Photovoltaik freigegeben werden?
Broistedt: Das Thema ist bereits platziert. Ich bin dazu im Austausch mit der Landesregierung und vermutlich bin ich nicht die einzige. Wir müssen jetzt sehen, was Land und Bund daraus machen. Eine PV-Anlage auf dem Dach eines denkmalgeschützten Gebäudes ist für mich kein Eingriff in den Denkmalschutz. Im Moment ist sie sehr sinnvoll, und sie lässt sich jederzeit wieder abbauen.
Allein mit Privatdächern und Balkonen wird die Energiewende nicht gelingen. Wie steht es in Göttingen um größere Freiflächenanlagen und um die Windkraft?
Wir wollen 2045 selbst 45 Prozent unseres Energiebedarfs aus regional erzeugter und erneuerbarer Energie decken, da sind wir auf Freiflächen-Photovoltaik und Windenergieanlagen angewiesen. Deshalb werden wir – beginnend mit diesem Jahr – jährlich zwei Bebauungspläne für Freiflächen-PV auf den Weg bringen. Für die erste Anlage in Hetjershausen besteht bereits ein grundsätzlicher, politischer Konsens. Darüber hinaus werden wir auch über den vom Bund geforderten Durchschnittswert von 2,2 Prozent für Windenergie ausgewiesener Fläche hinausgehen – sonst erreichen wir unser Ziel nicht. Deshalb umfasst unser Aufstellungsbeschluss – der erste Schritt für einen Flächennutzungsplan – 8,5 Prozent des Stadtgebietes als Potenzialfläche, am Ende werden davon im konkreten Plan vermutlich etwa 4 Prozent favorisierter Standorte übrig sein, darunter Ausweichflächen, falls im abschließenden Genehmigungsverfahren doch noch etwas wegfällt. In den nächsten vier bis fünf Jahren müssen acht bis zehn Windräder möglich sein. Selbst das wird aber für die 45 Prozent nicht reichen. Deshalb sprechen wir gerade mit den Umlandgemeinden, den Stadtwerken und der EAM über die Gründung einer gemeinsamen Gesellschaft, um weitere Anlagen auf Freiflächen in der Region zu errichten.
Ca. zwei neue Windräder pro Jahr – seit 1998 das erste Windrad Göttingens errichtet wurde, ist kein weiteres hinzugekommen. Wie soll das funktionieren?
Ganz wichtig ist, dass wir alle uns von der „Klimaschutz ist gut, nur bitte nicht bei mir“-Mentalität verabschieden müssen. Das fängt beim Anwohnerparken im Ostviertel an und hört auch bei Windrädern im Landschaftsbild nicht auf.
Im Jahr 2020 lag der Anteil der erneuerbaren Energien am Energieverbrauch in Göttingen gerade einmal bei 4,3 Prozent. Nicht viel höher als 2014, als es zu einem bisher einmaligen plötzlichen Anstieg kam. Nun soll sich der Anteil in drei Jahrzehnten etwa verzehnfachen?
Epperlein: Wir sind seit 2014 – der Anstieg damals resultierte aus einer Bundesinitiative – tatsächlich nicht viel weiter. Was wir aktuell machen, ist in den Daten noch nicht ersichtlich. Obwohl wir beispielsweise im vergangenen Jahr über den Klimafond 450 Anträge bewilligt haben – das sind 2,5 Megawatt Leistung – laufen davon gerade einmal 10 Prozent. Es sind schlicht keine Solaranlagen auf dem Markt, und auch das Handwerk hat wegen des Fachkräftemangels ein Problem. Erst Ende 2023, wenn alle geförderten Anlagen am Netz sind, wird sich der Effekt spürbar zeigen. Leider dauert das alles lange.
„EVA2“ steht am Südrand Geismars, wurde 1998 errichtet und ist bisher das einzige Windrad auf dem Göttinger Stadtgebiet.
Das ist allerdings schade. Wie viel kann die Stadt Göttingen überhaupt zum Klimawandel in ihrem Gebiet beitragen?
Epperlein: Wir werden uns richtig anstrengen und selbst dann sind es nur rund 20 Prozent, die die Stadt selbst beisteuern kann. Der Rest verteilt sich zu gleichen Anteilen auf den Bund, etwa über Gesetzgebung und Fördermaßnahmen, und auf die Stadtgesellschaft, also Bürgerinnen und Bürger ebenso wie die Wirtschaftsunternehmen und Institutionen. Ohne die Stadt als Umsetzungsinstanz geht es nicht, entscheidend sind aber die beiden anderen Bereiche.
Broistedt: Deshalb wollen wir alle Potenziale ausschöpfen. Angefangen bei der Unterstützung eines Reparaturcafés, bis zu großen Themen wie Flächennutzungsplänen. Wir wollen Rahmenbedingungen schaffen, die zum Nachdenken über das eigene Verhalten anregen. Deshalb ist auch die Informations- und Beteiligungsarbeit, die das Referat für nachhaltige Stadtentwicklung leistet, ein wichtiger Bestandteil unserer Klimaschutzaktivitäten.
Frau Broistedt, wie sieht Göttingen 2035 aus?
Der Energiebedarf wird zu einem hohen Anteil aus erneuerbarer Energie gedeckt. Wir haben zehn Windräder auf dem Stadtgebiet, standardmäßig PV-Anlagen auf den Dächern und E-Autos in den Straßen. Es gibt viele Lademöglichkeiten – am besten neben kleinen Cafés, wo Menschen auf das Aufladen warten können. Göttingen ist eine echte „Schwammstadt“, die Wasser auffängt und hält. Überall sind grüne Fassaden und Dächer. Wir werden mit dem Fahrrad oder zu Fuß unterwegs sein, denn ein Großteil des Lebens wird sich in den Quartieren abspielen.
Das sind noch zwölf Jahre. Angesichts der bisherigen Entwicklung braucht es bis dahin wohl noch sehr viel Mut und Geld.
Vielen Dank für das Gespräch.
Nachhaltige Stadtentwicklung
Neue Quartiere in Göttingen, wie z. B. das am Lange Rekesweg, sollen künftig unter Klimaschutzaspekten entstehen. Das 7,5 Hektar große Quartier wird als klimaschonendes und nachhaltiges Modellquartier entwickelt, in dem neben neuen Wohnformen auch ein entsprechendes Mobilitäts- und Energiekonzept umgesetzt werden. „Wir wollen kurze Wege. Wohnen, Einkaufen, Kita und idealerweise Arbeit sollen im Quartier möglich sein“, erläutert Petra Broistedt. „Das bedeutet E-Ladesäulen, ein eigenes Quartiersparkhaus, gute Bus- und Fahrradanbindungen und Versorgung mit erneuerbarer Energie.“ „Unser Ziel sind klimaneutrale neue Quartiere“, fügt Dinah Epperlein hinzu. „Im Lange Rekesweg und im Europaquartier wollen wir das komplett schaffen.“
Lohnt sich eine Solaranlage auf meinem Dach?
Wer wissen möchte, ob eine PV-Anlage auf dem eigenen Dach sinnvoll ist, erfährt dies im Solardachkataster der Energie Agentur Region Göttingen. Falls eine entsprechende Anlage infrage kommt, bietet die Stadt detaillierte Informationen über eine mögliche Förderung im Rahmen des Göttinger Klimafonds.
Solardachkataster: solardachkataster-suedniedersachsen.de
Kilmafond-Förderung: nachhaltigkeit.goettingen.de/welche-unterstuetzung-gibt-es-/
Wenn der Regen kommt
Klimaanpassung ist auch in Göttingen wichtig. Deshalb hat die Stadt eine detaillierte Gefahrenanalyse für Starkregenereignisse erstellen lassen, die in bestimmten Teilen Göttingens ernsthafte Schäden anrichten können, wenn Regenwasser nicht mehr vom Boden aufgenommen oder in die Kanalisation ablaufen kann. Mittels einer Karte können Göttingerinnen und Göttinger nun genau ermitteln, welche Grundstücke betroffen sein können. Zu dem Projekt gehört auch eine detaillierte Grundstücksauskunft sowie eine telefonische Beratung bzw. ein Gutschein für einen Vorort-Termin, denn es gibt eine ganze Reihe nicht zu aufwendiger Möglichkeiten, sich vor gefluteten Kellern etc. zu schützen.
Weitere Infos unter: https://goe.de/starkregen