Warum Unternehmen Pflegeplätze für unsere Eltern anbieten, und ein Arbeitnehmerkarussell Sinn macht, das erklärt der Zukunftsforscher Sven Gábor Jánszky im Charakter-Interview ebenso, wie er voraussagt, dass Künstliche Intelligenz uns zu Trainern machen wird.

Interview: Ulrich Drees | Fotos: 2b AHEAD ThinkTank GmbH, Adobe Stock

Herr Jánszky, wie schätzen Sie als Zukunftsforscher das Thema Fachkräftemangel angesichts des demografischen Wandels auf dem Arbeitsmarkt ein?
Zuerst einmal: Wir haben momentan noch immer Arbeitslosigkeit. Etwa 2,5 Millionen Menschen sind nicht erwerbstätig. Das heißt, obwohl in bestimmten Bereichen bereits ca. 700.000 bis 800.000 Stellen unbesetzt sind, ist das Angebot an Arbeitskräften aktuell insgesamt größer als die Nachfrage. Für die Zukunft lassen Statistiken der Bundesagentur für Arbeit jedoch erwarten, dass bis 2030 sechs Millionen Menschen aus dem deutschen Arbeitsmarkt ausscheiden werden, weil die geburtenstarke Baby-Boomer-Generation in Rente geht. Daraus ergibt sich, dass das, was wir jetzt erleben, im Vergleich zu dem, was auf uns zukommt, der reinste „Kindergarten“ ist.
In den nächsten fünf bis zehn Jahren wird der noch existente Angebotsüberschuss auf dem Arbeitsmarkt verschwinden, bis es gar kein Angebot mehr gibt. Unsere Studien und Hochrechnungen ergeben, dass wir uns dann schrittweise einer Situation mit ca. fünf Millionen unbesetzten Stellen annähern werden. Und das wird dann für 10 bis 15 Jahre auch relativ konstant so bleiben.

Sind sich die Verantwortlichen in Wirtschaft und Politik dieser Situation ausreichend bewusst?
Im Moment geht man mit dem Fachkräftemangel noch so um, dass das Human-Resources-Management ein wenig verbessert und etwas mehr Geld und Aufmerksamkeit für Recruiting-Maßnahmen verwandt wird. Das funktioniert noch, weil das Problem noch nicht wirklich groß ist – im Vergleich zu dem, was auf uns zukommt, ist es sogar eher winzig.

Aktuell wird im Zusammenhang mit jüngeren Arbeitskräften viel vom mangelnden Leistungsverständnis und zu großer Bedeutung der „Work-Life-Balance“ gesprochen. Geht es da um einen Generationskonflikt und spielt das eine Rolle für die Entwicklung?
Die aktuelle Arbeitgebergeneration hat über mehr als vier Jahrzehnte hinweg in einer Situation der Massenarbeitslosigkeit eine Stelle ausgeschrieben und anschließend kamen z. B. 200 Bewerbungen rein. Dann brauchte es Tools, um den Richtigen oder die Richtige zu finden, und die Stelle war besetzt. Diese Methodik beherrscht diese Generation hervorragend. Das Problem ist nur, dass sich heute niemand mehr bewirbt. Und das haben die meisten Arbeitgeber und, ehrlich gesagt, auch die Personalvorstände noch nicht kapiert.

Wie können Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sich auf die Entwicklung vorbereiten?
Es braucht eine andere und glasklar umgesetzte Personalstrategie. Diejenigen, die heute das Thema Recruiting ernst nehmen und ein aktives Social-Recruiting betreiben, können freie Stellen noch einigermaßen besetzen. Sie bewerben sich über Social Media bei potenziellen Mitarbeitern und motivieren Wechselwillige, zu ihnen zu kommen. Diese Social-Media-Abwerbung funktioniert, weil das nur wenige machen. Wenn es aber erst mal noch mehr Arbeitslosigkeit gibt und nur noch Analphabeten oder ganz schlecht ausgebildete Menschen fünf Millionen unbesetzten Stellen gegenüberstehen, wird das nicht mehr reichen. Denn dann wird nämlich jeder halbwegs gut Ausgebildete alle zwei Wochen von einem Headhunter oder Personalberater angerufen und gefragt werden, ob er nicht wechseln will.
Manche Mitarbeiter werden zwar sagen: „Ruf nicht mehr an, ich bin hier zufrieden.“ Aber das sind unseren Prognosen nach nur ca. 40 Prozent der Gesamtarbeitenden, die eben ganz klassisch eine langfristige Anstellung bevorzugen. Dazu kommen 20 Prozent Selbstständige. Die restlichen 40 Prozent sind jedoch grundsätzlich wechselwillig. Wir Zukunftsforscher nennen sie „Projektarbeiter“.

Was kennzeichnet diese Menschen?
Sie sind nicht mehr einem Unternehmen gegenüber loyal, sondern einem Projekt. Deshalb sind sie permanent abwerbbar. Nicht so sehr für mehr Geld, aber sehr wohl für eine interessantere Herausforderung oder die Zusammenarbeit mit spannenderen Menschen. Diese Projektarbeiter können das unbefangen ausprobieren, denn wenn der neue Job doch nicht so gut ist, ruft der Headhunter ja sowieso bald wieder an.
Daraus folgt, dass gut die Hälfte der Mitarbeiter – und zwar meist die am besten qualifizierten und kompetentesten – eines Unternehmens nach einem abgeschlossenen Projekt bereit sind, den Arbeitgeber zu wechseln. Unternehmen müssen also damit rechnen, alle zwei Jahre – und das ist schon optimistisch – ihre besten Mitarbeiter zu verlieren.

Wie kann man damit umgehen?
Es gibt zwei mögliche Strategien. Im Rahmen der sogenannten fluiden Strategie konzentrieren sich Unternehmen darauf, diese Projektarbeiter sehr professionell anzuziehen und wieder wegzuschieben, das heißt ihnen zu kündigen.

Kündigen? Das klingt kontraproduktiv.
Ja, aber diese Projektarbeiter werden auf jeden Fall gehen, man kann sie nicht halten. Deshalb ist es klüger, ihnen selbst zu kündigen und sie dabei innerhalb des eigenen Netzwerks auf ein anderes Projekt oder zu einem anderen Projektleiter weiterzuvermitteln. Dann verschwinden sie nämlich nicht vom Radar, sondern könnten beim nächsten Wechsel wieder zu mir zurückvermittelt werden.
Das ist für Unternehmen in den nächsten zehn Jahren aus Sicht der Zukunftsforschung die vermutlich erfolgsrelevanteste Strategie. Entsprechend große Unternehmen könnten das in den eigenen Strukturen organisieren. Konzerne machen es sogar bereits, indem sie ihre Mitarbeiter mal nach Singapur, mal nach Dubai schicken. Mittelständler könnten sich in Netzwerken zusammenzuschließen, um ihre Mitarbeiter untereinander zu tauschen.

Und die zweite mögliche Strategie?
Die nennen wir die Strategie der „Caring Company“. Caring Companies sind Unternehmen, die dieses Anziehen und Abschieben nicht umsetzen können, weil sie beispielsweise irgendwo in der Provinz angesiedelt sind. Die Projektarbeitenden werden nämlich eher in den großen Städten und Ballungsräumen leben, weil das ihrem Lebensstil mehr entgegenkommt.
Diese Caring Companies müssen eine neue Form der Mitarbeiterbindung entwickeln, die nicht mehr auf ein wenig mehr Geld oder zwei weitere Urlaubstage etc. abzielt. Diese Bindung lässt sich leicht trennen, indem ein Headhunter einfach dasselbe plus fünf Prozent anbietet. Als Zukunftsforscher empfehlen wir, Mitarbeiterbindung als eine Bindung in das soziale Umfeld der Mitarbeiter zu begreifen, zu ihren Eltern, Kindern, Ehepartnern, ihrem Freizeit- oder Urlaubsumfeld usw.

Wie muss man sich das konkret vorstellen?
Beispielsweise könnte ein Unternehmen eine betriebseigene Pflege für die Eltern des Mitarbeiters einrichten oder eine betriebseigene Schule für seine Kinder, es könnte betriebseigene Urlaubsplätze, Eigenheime, günstige Wohnungen zur Verfügung stellen. Wenn dann der Headhunter anruft, wird der Mitarbeiter sich automatisch fragen: „Der Job ist vielleicht spannend, aber dann müssten meine Eltern den Pflegedienst oder meine Kinder die Schule wechseln und ich müsste aus dem Haus ausziehen, in dem ich wohne – also bleibe ich lieber.“

Das klingt teuer.
Allerdings, aber es ist immer noch viel günstiger als alle zwei Jahre die bessere Hälfte meiner Mitarbeiter auf einem leeren Arbeitsmarkt ersetzen zu müssen. Angesichts der zu erwartenden Recruiting-Kosten ließe sich die Struktur einer solchen „Caring Company“ vermutlich für 50 Prozent dieser Summe aufbauen.

Trotzdem müssten Unternehmen diese Kosten ja irgendwie weitergeben. Was würde so etwas volkswirtschaftlich bedeuten?
Zunächst höhere Löhne und steigende Preise; und damit daraus keine sinkende Produktivität entsteht, müssen zwingend Wege gefunden werden, die erwähnten fünf Millionen freien Stellen zu besetzen. Zum Beispiel mit mehr Vollzeit- statt Teilzeitbeschäftigungsverhältnissen. Leider geht der Trend aber genau in die andere Richtung, also wird das vermutlich nicht funktionieren. Die Zuwanderung aus dem Ausland zu forcieren, wäre eine andere Lösungsmöglichkeit. Andere Vollbeschäftigungsmärkte – wie beispielsweise das Silicon Valley oder die Schweiz – machen das schon. Die bieten qualifizierten Zuwanderern ein dauerhaftes Arbeits- und Bleiberecht. Leider tun sich hierzulande Politik und öffentliche Meinung schwer damit. Erst kürzlich ergab eine Tagesschau-Umfrage, dass die meisten Deutschen meinen, es gäbe bereits zu viele Ausländer hier. Wir werden jedoch trotz dieser Ängste und möglicher gesellschaftlicher Spannungen sehr wahrscheinlich nicht darum herumkommen. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, Menschen zurückzuholen, die bereits in Rente gegangen sind, und das Rentenalter weiter auszudehnen auf 75 oder vielleicht sogar 80 Jahre.

Aus heutiger Sicht nur schwer vorstellbar …
Das ist sicher nicht schön für diejenigen, die sich darauf gefreut hat, nach dem 60. Geburtstag 30 Jahre Urlaub zu machen. Doch wann gab es schon einmal 30 Jahre Urlaub? Wer genug Geld hat, soll das machen, alle anderen werden sich an eine längere Lebensarbeitszeit gewöhnen müssen, solange unsere Lebenserwartung immer weiter steigt und wir immer länger aktiv und mobil bleiben.

Lässt sich das Problem mit diesen drei Maßnahmen wirklich lösen?
Wir Zukunftsforscher gehen eher davon aus, dass es darum geht, die Lücke so klein wie möglich zu halten. Sie wird trotzdem da sein.

In der aktuellen Diskussion über künstliche Intelligenz ist immer wieder zu hören, dass sie viele Arbeitsplätze kosten wird. Das klingt angesichts eines bevorstehenden Arbeitskräftemangels weniger bedrohlich, weil das ja zu mehr Arbeitssuchenden auf dem Markt führen würde. Sind solche Entwicklungen in Ihren Prognosen eingeplant?
Ja. Die durch die Entwicklung von künstlicher Intelligenz hervorgerufenen Transformationsprozesse sind berücksichtigt. Die einzige Unwägbarkeit ist für uns aktuell die Frage, ob wir vielleicht vor einer riesigen Rezession stehen. Dann würde es vermutlich statt fünf Millionen nur drei Millionen unbesetzter Stellen geben. Doch ehrlicherweise sind diejenigen, die diese Rezession prognostizieren, klar in der Minderheit.
Der Wegfall von Arbeitsplätzen durch KI ist kein Problem. In zehn Jahren wird jeder, der wirklich arbeiten will und kann, einen Arbeitsplatz haben – jedoch nicht unbedingt denselben wie heute, denn künstliche Intelligenz wird durchaus sehr viele Tätigkeiten übernehmen, die heute noch von Menschen ausgeführt werden.

Um welche Bereiche geht es?
Es gibt drei Arten von Tätigkeiten, die KIs nacheinander übernehmen werden. Zuerst ist die – bitte nicht falsch verstehen – „falsche Kreativität“ an der Reihe. Damit meine ich eine Kreativität, die in erster Linie bereits Vorhandenes nimmt und es nur neu zusammensetzt. Viele Grafiker, Komponisten, Musiker, Journalisten und manche Schriftsteller leben heute genau davon. Doch so etwas kann künstliche Intelligenz viel besser und viel schneller als ein Mensch erledigen, weil das im Grunde nicht schwer ist, wie man aktuell bei KIs, wie ChatGPT, sieht. Danach werden KIs das Filtern und Sortieren von Informationen übernehmen. Wenn beispielsweise heute ein Steuerberater vorhandene Zahlen korrekt sortiert, wird das schon bald eine KI besser und schneller können. In einem dritten Schritt werden KIs die Aufgaben der Menschen übernehmen, die heute noch Maschinen bedienen, also händische Routinetätigkeiten ausführen, wie zum Beispiel das Autofahren. Es ist völlig sinnlos, dass ein Mensch am Lenkrad dreht, wenn eine entsprechend entwickelte KI das besser erledigen kann. Dasselbe gilt für Flugzeuge, Lokomotiven oder Druckmaschinen.
All das muss einer KI jedoch zunächst vermittelt und antrainiert werden, sonst kann sie nicht mehr als ein menschliches Baby. Und genau diese Aufgabe werden Menschen noch über einen großen Zeitraum hinweg übernehmen müssen.
Da wir momentan nur zwei Prozent der vermutlichen KI-Anwendungsgebiete überhaupt identifiziert haben, bedeutet das sehr viele neue Jobs in allen Wirtschaftsbereichen auf der ganzen Welt. Ein absolut riesiger Markt.

Sven Gábor Jánszky
Sven Gábor Jánszky (geb. 1973), Geschäftsführer der 2b AHEAD ThinkTank GmbH mit Sitz in Leipzig, gilt als Europas innovativster Trendforscher. Er leitet das größte Zukunftsforschungsinstitut Europas 2b AHEAD und mehr als 200.000 Zuschauer sahen bereits seine Trend-Keynotes. Der Dipl. Journalist studierte an der Universität Leipzig Journalistik und Politikwissenschaft. Seine 2b AHEAD Group umfasst aktuell 31 verschiedene Unternehmen und Beteiligungen. und arbeitete als Geschäftsführer von unter anderem der MDKK Europe GmbH & Co. KG und der Medea Film GmbH & Co. KG.

Leere Regale, weil niemand sie befüllt
Dass die vielen unbesetzten Stellen zu leeren Regalen führen, wie wir sie z. B. in der Corona-Epidemie erlebten, ist für Sven Gábor Jánszky weniger wahrscheinlich, als dass es durch das sich zuspitzende globale Ringen der alten Supermacht USA und der neuen Supermacht China zu Engpässen kommt. „Auf die Dauer werden in der Welt eine amerikanische und eine chinesische Einflusssphäre entstehen“ so der Zukunftsforscher. „Das bedeutet, dass es zu Einschränkungen kommen kann, wenn die Wirtschaftskontakte der deutschen Wirtschaft nach China Schritt für Schritt weniger werden. Aus marktwirtschaftlicher Logik heraus werden natürlich in der amerikanischen Einflusssphäre neue Anbieter entstehen, aber das wird seine Zeit brauchen.“

Mit der KI in die intelligente Planwirtschaft
In zehn Jahren werden KIs auf Quantencomputern laufen und wesentlich leistungsfähiger sein als heute. Daraus ergibt sich für Sven Gábor Jánszky die Möglichkeit einer Planwirtschaft. Denn möglicherweise könnte eine KI unseren Bedarf an Produkten und Dienstleistungen so intelligent voraussehen, dass es jeweils nur noch einen oder zwei Anbieter bräuchte, um alles Nötige herzustellen oder anzubieten.
In einer Marktwirtschaft existieren ja deshalb unterschiedliche Anbieter, weil sich aus deren Wettbewerb darum, die jeweilige Nachfrage am besten zu befriedigen, entsprechende Gewinnchancen ergeben. Wenn vorher klar wäre, was Konsumenten exakt brauchen, gäbe es keinen Wettbewerb mehr. Ob KIs allerdings wirklich irgendwann so komplexe Voraussagen machen können? „Genau wissen wir das noch nicht“, so Sven Gábor Jánszky.